Der Schnitzer des Werbener St. Annen-Altarschreines.

Zwischen Hamburg und Werben herrschte im 15. und 16. Jahrhundert ein lebhafter Handelsverkehr; die Elbe bot dafür die günstigste Gelegenheit. Von diesem Handelsverkehr war schon einmal in diesen Beiträgen die Rede; in Band V, Seite 29, war auf Grund von älteren Werbener Ratsrechnungen darauf hingewiesen, daß das Werbener Getreide zum Verkauf nach Hamburg verschifft, daß im Jahre 1575 und 1582 von B. Kersten Kaulitz das städtische Getreide mit seinem eigenen mit nach Hamburg genommen, und daß das Ratsgetreide im Jahre 1582 von den beiden Ratsherren Peter Krüger und Claus Jugert dort verkauft wurde. Diesem Verkehr waren auch kulturelle Beziehungen zu danken. Sicher nachgewiesen waren sie bisher nur in einem Falle: Der gotische Altarleuchter und „die Taufe" der Werbener Johanniskirche von 1487 und 1489 sind nämlich Werke des Hamburger Gießmeisters Hermann Bonstede, der von 1464 bis 1496 in Hamburg nachweisbar ist (vergl. K. Hüsler, Das Amt der Hamburger Rotgießer 1922, S. 44). Nun ist es gelungen, solche Beziehungen noch in einem anderen Falle sicher nachzuweisen.

Im 28. Jahresbericht des Altmärkischen Vereins für vaterländische Geschichte und Industrie zu Salzwedel, Magdeburg 1901, S. 30 f., ist der Vertrag veröffentlicht, den der Werbener Bürgermeister Peter Kroger mit Helmeke Borstel über die Herstellung einer Altartafel zum St. Annen-Altar am Freitag nach Allerheiligen 1513 geschlossen. Nähere Angaben über diesen Altarschrein finden sich in der „Osterburger Zeitung" vom 1. und 3. Januar 1926 sowie vom 3. Dezember 1927. Die Bemühungen, die Heimat des Altarschnitzers und den Ursprungsort des Schreines festzustellen, waren viele Jahre hindurch vergeblich. Endlich sollten sie von Erfolg gekrönt sein. Bei den Vorarbeiten zu der Abhandlung über „Stendal und die Hanse" im Oktober 1928 im Magdeburger Staatsarchiv fand ich in dem Register zu den Hanserezessen vom Jahre 1521 den Namen des Hamburger Ratssendboten Conradus Borstel. Die Vermutung, daß auch der lange gesuchte Altarschnitzer Helmeke Borstel ein Hamburger wäre, wurde durch Nachforschungen bei dem Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg bestätigt. Ein Schreiben des Staatsarchivdirektors Dr. Reinecke in Hamburg vom 14. November 1928 brachte nicht nur die Bestätigung, sondern auch höchstwillkommene ausführliche Nachricht über den Schnitzer. Aus diesem Schreiben sei das Wichtigste kurz mitgeteilt:

  1. Der Ortsname Borstel ist in der näheren und ferneren Umgebung von Hamburg sowohl in seiner einfachen Form wie in Zusammensetzungen verschiedener Art außerordentlich häufig. Nach den Ortschaften tragen Hamburger Familien ihren Namen. Der Hamburger Ratsherr, der 1521 bei einem Lübecker Schreiber als Conradus Borstel auftritt, hat in den Hamburger Quellen stets den Zunamen Bestenbostel. Unser Schnitzer, der im letzten Jahrzehnt vor Beginn der Reformationszeit vielbeschäftigte Hamburger Maler und Bildschnitzer, trägt den zusammengesetzten Namen Hornebostel, wie er denn auch in der Urkunde vom Jahre 1513 so genannt ist.
  2. Helmeke Borstel stammt wahrscheinlich aus der Gegend von Celle. Ein Dorf Horneborstel liegt 18 km westlich von Celle im Winkel zwischen Aller und Wietze. Im Jahre 1505 wurde durch Zahlung von 24 G. Helmeke Hornebostel in das Hamburger Maleramt aufgenommen. Unmittelbar nach Erwerbung des Meisterrechts muß Helmeke geheiratet haben, denn schon 1524 erscheint eine Tochter von ihm vermählt. 1507 wurde er Besitzer des Maleramtes, in welcher Stellung er bis zu seinem Tode 1522 verblieb; 1510 sehen wir ihn als Aeltermann der Brüderschaft des Heiligen Thomas von Aquino der Kunsthandwerker. Gewohnt hat der Meister am Markte der Altstadt an der Ecke der Hund- oder Beckmacherstraße zum Berge. Am 12. Dezember 1522 wird seine Witwe Anna genannt. Er hinterließ neben der Witwe sechs Kinder. Die Werkstatt ging auf den Schwiegersohn Hans Vicke, der 1523 Meister geworden, über.
  3. Er war, wie es scheint, in erster Linie Bildschnitzer, obwohl er stets als Maler bezeichnet wird. In Hamburg hat er, wie aus den Kirchen- und Hospitalrechnungen ersehen werden kann, drei Bildschnitzerarbeiten ausgeführt:

a) die Predella des Altars der Brüderschaft Unserer Lieben Frauen im Dom,

b) die St.-Jürgen-Gruppe in der Kapelle des St.-Georg-Hospitals,

c) die St.-Jürgen-Gruppe der Brüderschaft St. Jürgen der Reitendiener zu St. Johannis.

Leider ist von den soeben nachgewiesenen Arbeiten Horneborstels keine einzige mehr erhalten; sie scheinen sämtlich das 18. Jahrhundert nicht überlebt zu haben. Nur ein paar Reproduktionen sind vorhanden. Um so wichtiger ist es, daß das Werbener Werk Hornebortels unversehrt erhalten ist.

Nach den Reproduktionen versucht Dr. Reinecke, Hornebostels Kunst zu charakterisieren. Ueber die unter a angeführte Predella lautet sein Urteil: „Der Gesamtcharakter ist überall ruhig, schwer, unbewegt, auch in der Drapierung"; über b: „Jedenfalls scheint festzustehen, daß die Arbeit, deren Gegenstand zu lebhafter Darstellung geradezu herausfordert und sie auch gefunden hat, außerordentlich temperamentlos ausgefallen ist"; über c: daß die Darstellung wenigstens etwas mehr Lebendigkeit zeigt als die vorige, wenn sie auch gegenüber den wenig älteren vorzüglichen Lübecker Vorbildern etwas Lahmes behält." Ein ähnliches Urteil müssen wir auch über den Werbener Schrein fällen, er verrät das gleiche Temperament des Meisters.

Aller Wahrscheinlichkeit nach stammt auch der Werbener Hauptaltarschrein aus Hamburg. Der frühere Provinzialkonservator Dr. Oskar Doering hat diese Vermutung ausgesprochen und auf die in dem ersten Drittel des 15. Jahrhunderts in Hamburg arbeitenden Meister Franke und Bertram hingewiesen. Uebrigens lernen wir in der Werbener Geschichte auch Familien dieses Namens kennen. Deshalb ist die weitere Vermutung erklärlich, es möchten Beziehungen zwischen den Hamburger Meistern und den gleichnamigen Werbener Familien bestanden haben. Jedenfalls ist man zur Zeit in Hamburg geschäftig, alle diese Vermutungen zu untersuchen; ich glaube, daß wir da noch interessante Ergebnisse kennen lernen werden.

Werben gehörte zu dem altmärkischen hansischen Städtebund, dessen Vorort Stendal war. Diese Zugehörigkeit zum Hansebund hat sicherlich Werbens Handelsbeziehungen zu der alten Hansestadt Hamburg sehr gefördert. Es ist interessant nachzuweisen, wie den Handelsbeziehungen auch kulturelle Beziehungen zu danken sind: Mit dem Gelde, das die Werbener in Hamburg für ihr verkauftes Getreide erhielten, brachten sie auch hamburgische Kunst zum Schmuck ihres herrlichen Gotteshauses St. Johannis mit heim.

E. Wollesen -- Zeitz.