Ein Original-Lutherbrief.

(Mitgeteilt von E. Wollesen, D. theol., Pf., Zeitz)

Es gibt wohl wenige Briefe Luthers, die noch nicht der Öffentlichkeit bekannt sind. Um so größer war meine Freude, als mir ein Lutherbrief zur Übersetzung anvertraut wurde, der noch nicht weiter bekannt war. Dieser lateinische Lutherbrief war in der Familie Seidel immer auf den ältesten Sohn vererbt worden; er befindet sich jetzt, unter Glas sorgsam aufbewahrt, in der Familie des Herrn Amtsgerichtsrat Seidel hier in Zeitz. --- Wir begehen in diesem Jahre das 450jährige Geburtsjubiläum des Mannes, der in der Grabstein-Inschrift seines Enkels Johannes Ernst „Chaumasiander" genannt wird, unseres Martin Luther. Allüberall in evangelischen Landen wird man in diesem Jubeljahr besonders dankbar der Person und des Werkes dieses „Wundermannes" gedenken. Zu dieser allgemeinen großen Luthergedenkfeier mit der Veröffentlichung des bisher unbekannten Lutherbriefes ein wenig beitragen zu können, ist mir eine besondere Freude. Dafür, daß der Herausgeber unserer Zeitschrift dem Briefe die erste Stelle in diesem Hefte eingeräumt hat, wollen wir ihm danken. Der Brief lautet folgendermaßen:

Venerabili fratri Johanni Weber,
pastori Neustadtensi, fideli in
domino.

Gratiam et pacem in domino. Quare non absolvis tuum sotium fratrem hunc ab uxore sua, Mi Johannes? Nos magnis oppressi negociis debemus a vobis pastoribus huiusmodi causis exonerari. Rogo itaque, ut, quia maritus prior adhuc vivit, vel Judici vestro permittas, vel tu ipse in suggestu coram populo pronuncies liberum ab illa, ut errorem boni consulant. Nimio enim festinatum fuit in isto conjugio, ne dicam imprudenter.

Summa, istas causas vel ipsi deberetis finire, vel ad aulam reiicere, non nos onerare talibus.

Vale in domino et ora pro me. XIX. Martii 1530

Martinus Luther.

Es seien einige kurze Bemerkungen zu diesem Briefe gestattet:

  1. Der Brief ist die Antwort Luthers an den Pastor Johannes Weber in Neustadt, womit Neustadt an der Orla gemeint ist (vgl. Enders 8, 347^1^).
  2. Der Pastor hat einen Bruder, der mit einer von ihrem ersten Gatten geschiedenen Frau unglücklich verheiratet ist, und der darum wünscht, von ihr wieder getrennt zu werden. Der Pastor weiß nicht recht, was er in der schwierigen Rechtssache tun soll, er fragt darum den ihm bekannten Reformator um Rat. Luther bittet den Briefschreiber sehr energisch, ihn und seine Mitarbeiter nicht mit dergleichen Rechtssachen zu belasten, gibt ihm aber doch den Rat, entweder die Angelegenheit dem zuständigen Richter zu überlassen, oder selbst die Scheidung der Ehe von der Kanzel abzukündigen; letzteres sei wohl das Empfehlenswerte, um möglichst wenig Aufsehen zu erregen. Werde es abgekündigt, so würden die Leute die ganze Angelegenheit von der guten Seite nehmen. Als Grund könne angegeben werden, daß die Eheschließung in zu großer Eile, ohne Schuld des unglücklichen Mannes, zustande gekommen und dabei ein Irrtum unterlaufen sei.
  3. Schon am 7. Januar 1527 beklagt sich Luther bei Spalatin, wie mich Herr D. Clemen-Zwickau, aufmerksam macht, daß tot matrimonia ihn durch Satan plagten (Enders 6, 6). Hier hatte er noch mehr Grund zu solcher Klage. Man kann es dem Reformator nachfühlen, wie sehr er und seine Mitarbeiter damals magnis oppressi negociis derartige Anliegen wie Plagen empfinden mußten. Schon war der Reichstag von Augsburg angesagt, schon hatte sich zu demselben Karl V. von Bologna auf den Weg gemacht, schon hatten sich schwere Sorgen auf der Reformatoren Herz gelegt, und schon hatten sie die große Aufgabe, den Reichstag auf ihrer Seite vorzubereiten. Bei dem Gedanken an diese Zeitereignisse verstehen wir die energische Bitte Luthers in dem Briefe, ihn und seine Mitarbeiter mit solchen Dingen zu verschonen.
  4. Die Pfarrer konnten nach römischem Recht Ehen schließen. Nun war zwar nach demselben Recht eine Ehescheidung überhaupt nicht möglich, aber den evangelischen Pfarrern in der Übergangszeit, aus der ja auch unser Brief stammt, räumte man das Recht ein, entweder selbst eine Ehescheidung zu vollziehen, oder sie dem zuständigen Gericht zu überlassen.

Man kann unserm Brief eine gewisse Bedeutung nicht absprechen; er weist uns hinein in die Reformationsgeschichte jener Zeit, aber auch in die Sitten- und Rechtsgeschichte. Vor allem aber zeigt er uns den Reformator in dem hellen Lichte des treuen Freundes, der es trotz erdrückender wichtiger Aufgaben nicht über das Herz bringen kann, die Anfrage des in Verlegenheit befindlichen Freundes und Bruders unbeantwortet zu lassen.