Ein Werbener in Luthers Tischreden.

Von E. Wollessen, Zeitz.

Mancher Leser der Ueberschrift wird ein wenig verwundert darüber sein, zu erfahren, daß ein geborener Werbener in Luthers Tischreden sogar öfter erwähnt wird. Er weiß wohl, daß Werbener in Wittenberg studiert und zu Luthers Füßen gesessen, ihn auch veranlaßt haben, die erste Werbener Bibel vom Jahre 1545 mit einer eigenhändigen Inschrift auf dem 1. Blatte versehen zu haben, aber er weiß wohl nicht, daß Luther einem Werbener näher gestanden hat. Merkwürdigerweise war dieser Werbener nicht ein Theologe, sondern ein Jurist, überhaupt kein Anhänger Luthers, sondern ein Gegner. Es war Henning Göde, der berühmteste Mann, der aus dem kleinen Werben hervorgegangen ist. Freilich könnte man an seiner Herkunft aus Werben zweifelhaft werden, da er selber sich wiederholt „Havelberger" nennt, und weil er auch auf den beiden Epitaphien im Erfurter Dom und in der Wittenberger Schloßkirche „Havelberger" genannt ist. Aber seine Werbener Herkunft geht unzweifelhaft aus seiner Eintragung als Student der Rechte in das Verzeichnis der Universität Erfurt hervor: „1464 Henningus Goden de Werben". Die Bezeichnung als „Havelberger" mag daher kommen, daß Gödes Eltern früh von Werben nach Havelberg übergesiedelt waren.

Rasch erklomm Henning Göde (H. G.) die Stufenleiter der akademischen Würden: 1466 wurde er Baccalaureus, 1474 als der 2. von 15 Kandidaten magister in artibus et philosophia, danach baccalaureus beider Rechte und 1478 auch Kollegiat im Collegium maius (Haupt-Universität); als solcher wohnte er mit 7 anderen solcher Freistellen-Inhaber im Kolleggebäude in der Michaelisstraße zusammen mit den ihnen zur Beaufsichtigung anvertrauten Studenten; 1481 wurde er Dekan der philosophischen Fakultät, 1486 und 1489 Rektor der Erfurter Universität. Im sogenannten „tollen" Jahr begab er sich nach Wittenberg, wo er Propst zu „Allerheiligen" wurde. Zwar kehrte er 1516 wieder nach Erfurt zurück, weilte aber dort nur bis 1518, um dann bis zu seinem Tode 1521 in Wittenberg zu bleiben. Er war ein so bedeutender Jurist, daß bei seinen Lebzeiten sich kein deutscher Jurist mit seinem Einfluß und mit seiner Beliebtheit messen konnte. Er wurde „monarcha iuris" genannt. Als erster hat er auf deutschen Universitäten das „Deutsche Staatsrecht" und über die „Goldene Bulle" Karls IV. gelesen. Unter seinen Klienten befanden sich die Herzöge von Sachsen, Bayern, Pommern, ferner böhmische und thüringische Große, Bischöfe, Städte, Privatpersonen jeden Standes. In Rom erfreute er sich großen Ansehens, blieb er doch der römischen Kirche treu. Seine Gutachten standen in so hohem Ansehen, daß sie nach seinem Tode gesammelt herausgegeben wurden. Sein Testamentsvollstrecker, der Hildesheimer Domherr Matthias Meyer, ließ ihm jene beiden erwähnten Epitaphien durch den Nürnberger Erzgießermeister Peter Vischer herstellen, die wir noch heute in den Kirchen finden, Werke, die nach Schadows Urteil sich mit dem Besten, was in dieser Art zu jener Zeit in Italien gearbeitet wurde, messen dürfen. Wir verstehen es ohne weiteres, daß Luther (L.) an einem so bedeutenden Zeitgenossen, wie H. G. es war, nicht achtlos vorübergehen konnte, zumal da ihre Lebenswege öfter nahe aneinander führten.

L. besuchte seit Sommer 1501 die Universität Erfurt. Nach der Erlangung der philosophischen Magister-Würde wandte er sich im Januar 1505 einem Wunsche seines Vaters gemäß dem Studium der Rechte zu. Der Hörsaal für die Juristen lag von der eigentlichen Universität getrennt ganz in der Nähe von Gödes Wohnung vor der großen Plattform mit Treppe auf der Rückseite des Domes. Dort saß der junge L. zu den Füßen unseres Werbeners. Allerdings genoß L. nicht lange Gödes Vorlesungen, da er bereits am 17. Juli 1505 als Mönch in das Augustinerkloster in Erfurt eintrat. - L. erwähnt selber einmal in seinen Tischreden dieses sein juristisches Studium bei H. G. mit den Worten: „Als ich, Martin Luther, das Kirchenrecht kennen lernen wollte, las er (H. G.) die ‚Summa Angelica'. Doctor Henning meinte, es müsse nicht englisch, sondern wegen der heillosen Spitzfindigkeiten teuflisch genannt werden".

H. G. war ein gewiegter und begeisterter Kenner des römischen Rechts, aber dabei noch ganz von Erinnerungen an die heimatlichen Rechtsgewohnheiten erfüllt. Man kann sich daher denken, wie entsetzt er war, als L. vor dem Elstertore in Wittenberg auch das ius Papae verbrannte. Nach L.' Tischreden hat H. G. empört über diese Nachricht ausgerufen: „Was macht dieser heillose Mönch da?" L. aber nahm ihm das nicht übel, sondern gab ausdrücklich zu: „Als Rechtsgelehrter war er ausgezeichnet. Derartige in ihrer Art tüchtige Leute muß man ertragen und nicht völlig verwerfen, weil sie dem Staate Nutzen bringen und nicht die Religion bekämpfen". L. erkannte es dankbar an, daß er dem schwarzen Augustiner-Kloster in Wittenberg wohlgesinnt war, und fügte hinzu, er wäre für schlichte Späße zugänglich gewesen, wie denn ein Mönch in dem Kloster durch seinen Scherz manches hätte von ihm erreichen können. Oefter führte L. in seinen Tischreden Urteile des H. G. an. Als einst ein Pfarrer bei der Verteidigung des Papsttums einen Landmann getötet hätte, wäre er nach dem Rechtsgrundsatz „Si quis suadente Diabolo percusserit" angeklagt, aber dann freigesprochen, weil H. G. gesagt hätte: „Nicht auf den Rat des Teufels, sondern auf den Rat der Gerechtigkeit hat er dies getan." - L. wurde einst gefragt, warum Gott dem Satan und den Gottlosen so große Macht zugestehe; L. antwortete: „Warum ist Gott weiser als die Menschen? Was uns nicht gefällt, das ist bei ihm recht." Bei dieser Gelegenheit erwähnte L. ein Gespräch des H. G. mit dem Kurfürsten Friedrich. Auf die Frage des ersteren, weshalb der Kurfürst zu Hof mit grünem Holze feuerte, so es doch seinem Hause zum Schaden wäre, antwortete der Kurfürst: „Was in eurem Hause rat ist, das ist in meinem Hause unrat." - Die Jurisprudenz stand damals wegen ihrer Spitzfindigkeiten, ihrer Formalitäten und ihres groben, unbeholfenen Stils namentlich bei den Humanisten nicht in hohem Ansehen. Auch L. meinte, die Juristen regierten die Welt nicht nach dem Rechte, sondern nach ihren eigenen Ansichten; dadurch würden viele Rechtssachen und Streitigkeiten 10 Jahre und darüber hinaus hingeschleppt; „darum", fügte L. hinzu, „pflegte Dr. Henning und Hieronymus Schurf zu sagen, sie wollten nicht gern jemand zu der Fakultät raten, auch ihren eigenen Kindern nicht. Gott behüte mir meine Söhne, mein letzter Wille ist, daß keiner in iure promoviere." - L. sagte einst: „Es ist eine sonderliche Gnade; wenn ein Jurist soll ein guter Christ sein, da muß der heilige Geist sein, denn, wie Dr. Henning gesagt hat, gibt man eins nach, so wollen sie stets alles haben. Ist denn unser Evangelium recht, wie daran gar kein Zweifel ist, so kann des Papstes Jahrmarkt nicht recht sein."

Der Christ und Mensch H. G. kommt in dem Urteil L. nicht so gut davon, wie der Rechtsgelehrte H. G. L. sagte einmal in seiner geraden Weise: „Von der Religion verstand er nichts und kümmerte sich nicht um sie." Dem Menschen H. G. warf er Geiz vor. Unter der Ueberschrift: „Geiz ist ein Zeichen des Todes; auf Geld und Gut soll man sich nicht verlassen", weist L. auch auf den reichen H. G. hin mit den Worten: „Da Dr. Henning die Würste in der Feuermauer zählte, starb er bald. Und wenn ich mich ums Bauen, Mälzen, Kochen bekümmerte, so würde ich's nicht lange treiben, sondern bald sterben." - H. G. hatte eine treue, gebildete Haushälterin, die, wie ihr Herr, sehr sparsam war. So war es einmal nötig, für eine Wallfahrt nach S. Jago di Compostella von ehrwürdigen Matronen Gaben zu erbitten. Zu diesem Zwecke erbat ein Mönch auch von der Haushälterin H. G.' eine Gabe, aber zu seiner nicht geringen Verwunderung bekam er von ihr die kurze Abweisung: „Ich bin eine Geld verdienende Magd, nichts zahle ich dir." - Die Haushälterin starb. H. G. hatte nun keine treue Hüterin seines Leibes. Obwohl reich -- er hinterließ bis 15000 Goldgulden --, wurde er von den Seinigen vernachlässigt, als er in eine Krankheit fiel. Eines Tages kam L. zu ihm; er fand den Kranken nicht im Bett, sondern auf der Erde, nur mit seiner Schaube zugedeckt, liegend. L. fragte ihn, was er Gutes mache. Er antwortete, daß er krank wäre. Da sagte L. zu ihm: „Lieber Herr Doctor, Ihr seid ein schwacher Mann, Ihr solltet Euch nun mit unserm Gott versöhnen, und wäre Euer Bestes, daß Ihr Euch mit dem hochwürdigen Sakrament versorgtet, auf daß Ihr bereit wäret, wenn Gott über Euch gebieten möchte." Dr. Henning antwortete: „Ei, es hat noch keine Not; Gott wird an mir nicht so schweizerisch handeln und mich also übereilen." Aber L. hatte recht. Des andern Tages entfiel dem Kranken die Sprache; er wurde vom Schlage gerührt und starb jämmerlich, ohne viel von Gott zu wissen. Der Ausdruck „schweizerisch handeln" war damals wohl sprichwörtlich und sollte so viel heißen wie treulos, verräterisch, denn die Schweizer hatten im Frühjahr 1519 den Herzog Ulrich von Württemberg treulos im Stich gelassen. L. hat die Geschichte von dem jämmerlichen Tode des einst so hoch angesehenen und mit fürstlichen Ehren überhäuften H. G. zweimal in seinen Tischreden erzählt. Das eine Mal knüpfte er daran die Mahnung, daß wir allzeit bereit und fertig sein sollten, wenn Gott anklopfte und uns von diesem Leben abforderte, daß wir geschickt wären, einen christlichen Abschied aus dieser Welt zu nehmen. Das andere Mal schloß er die Geschichte mit einem Lob der Ehe: „Jämmerlich ist die Lage der Ehelosen, auch wenn sie reich sind. Daher ist es ein großes Geschenk, eine Lebensgefährtin zu haben. Und Henning Göde hätte ohne Zweifel seine Lebensgefährtin heimgeführt, wenn er diese Zeit erlebt hätte."

H. G.' Aussprüche waren in aller Munde, so z. B. sein Wahlspruch, den er seit 1474 führte: „Gesetze, auf welche nicht gehalten wird, sind Glocken ohne Klöppel". L. gibt noch einen Ausspruch H. G.s an: „Es ist nicht möglich, wer fleißig studiert, muß fromm sein."

Es war nicht viel, was hier von dem Verhältnis dieser beiden bedeutenden Männer mitgeteilt werden konnte, und doch wird dieses Wenige uns interessant sein, weil der eine dieser beiden Luther, der andere aber ein Altmärker, ein Werbener, war.

Noch möchte ich dem Herrn Vikar Werner, derzeitigen Assistenten an der Wittenberger Lutherhalle, herzlichen Dank für die überaus freundliche Mithilfe bei diesem Aufsatz sagen.