Pfarrer D. Ernst Wollesen zum Gedächtnis.

Wenn der Persönlichkeit und des Lebenswerkes unseres am Dienstag in der Karwoche heimgerufenen D. Ernst Wollesen an den Stätten seiner einstigen Wirksamkeit und auf den verschiedenen Gebieten seiner geistigen Arbeit mit großem Danke gedacht werden muß, so hat in diesen Blättern hier an erster Stelle die Erinnerung an das zu stehen, was er für den Gustav Adolf-Verein getan hat oder vielmehr was er mit und über allem einzelnen für dessen Werk gewesen ist. Denn diese bis zum Grunde treue Persönlichkeit tat, was sie war: sie setzte sich ganz für die große Sache ein, die ihm vor den Augen und vor den Händen stand. Er ist ein begeistertes Mitglied des Gustav Adolf-Werkes gewesen und durch mehr als ein Vierteljahrhundert ein in allem vorbildlicher Vorsitzender des von ihm geleiteten Zeitzer Zweigvereins. In der Gewissenhaftigkeit, mit der er die Jahresfeste veranstaltete, bei denen er regelmäßig Prediger aus der Diaspora predigen und berichten ließ, und mit der er wiederholt während des Jahres im Zeitzer Sprengel die Gustav Adolf-Gemeinde an Familienabenden vereinigte; in der besonderen Sorge, mit der er sich des Gustav Adolf-Frauenvereins annahm; in der Genauigkeit, mit der er --- so sorgfältig er selbst in allem wie seine Handschrift --- seine Jahresberichte verfaßte. Und mehr noch als das alles: bei allem war er mit unmittelbar persönlicher Hingabe tätig. Dem Frauenvereine hielt er monatlich eine Andacht. „Bis in die letzten Tage seines Lebens", so berichtet einer seiner Mitarbeiter, „ist er persönlich zu den Mitgliedern gegangen, um die Beiträge einzuholen; die Einladungen zu den Gustav Adolf-Abenden hat er selbst ausgetragen. Auf jeder Pfarrkonferenz --- und er war regelmäßig da --- erging sein Ceterum censeo als ein Ruf an die Amtsbrüder zur Hilfe für den Gustav Adolf-Verein." Obwohl er im Ruhestande lebte, ist er in den Sielen gestorben." Seine letzte Arbeit ist ein Vortrag gewesen, den er ganz kurz vor seinem Tode auf einem Gustav Adolf-Familienabend über zwei Zeitzer Originalbriefe von Luther und J. S. Bach gehalten hat.

Was solchen Darbietungen die bleibende Wirkung gab, war ihr sachlicher Gehalt. Die Persönlichkeit, die ihn bot, war von hoher Bildung und stand mit unermüdlicher geistiger Arbeit in stetem Vorwärtsdringen. Was sie bewegte, war die Geschichte, und der Nerv dieser geschichtlich forschenden, betrachtenden und schaffenden Arbeit war die Heimatgeschichte, in liebevoller Schätzung auch des Kleinsten, aber des Einzelnen immer im Zusammenhange mit der gesamten Umgebung und in der Verknüpfung mit dem allgemeinen, großen Geschehen. Der Pfarrersohn, der als erste literarische Veröffentlichung Erinnerungen seines wegen seiner deutschen Gesinnung aus Schleswig hinausgedrängten, nach der Ostprignitz übergesiedelten Vaters herausgegeben hat, fand in den beiden beruflichen Mittelpunkten seines Lebens Werben und Zeitz --- nur drei Jahre ist er zwischen seiner Tätigkeit in der Altmark Oberpfarrer in Ellrich a. H. gewesen --- die Brennpunkte seiner geschichtlichen Studien: hier erwuchsen seiner historischen Betrachtung die Aufgaben und hier drang er in das vielgestaltige geschichtliche Material ein, um seine Aufgaben erfüllen zu können. Eine ganze Reihe von Aufsätzen, zumal in der Zeitschrift des Vereins für Kirchengeschichte der Provinz Sachsen und in der an wertvollen Beiträgen reichen heimatkundlichen Beilage der Zeitzer Neuesten Nachrichten „Mark Zeitz" gibt Kunde, wie er sich in der Altmark und in Zeitz mit den Urkunden und Denkmälern vertraut gemacht hat und wie er auch über die engen Grenzen des Ortsgeschichtlichen hinaus seine wissenschaftlichen Funde und Ergebnisse für das Große und Größte nutzbar zu machen wußte.

Der größte Teil seiner Arbeit hat der Landschaft gegolten, die seine erste wissenschaftliche Liebe war: der Altmark. Mit welcher Liebe und Sorgfalt hat er die Stätte seiner ersten und seiner zweimaligen Tätigkeit (als Diakon und als Oberpfarrer), Werben, durchforscht und dargestellt! Von hier aus führt ihn die Liebe zu Land und Geschichte in die nähere und weitere Umgebung. „Allmählich entstand der Plan, die einzelnen Dörfer zu besuchen, die erreichbaren Urkunden zu durchforschen, die bemerkenswerten Kirchen mit ihren Altertumsschätzen zu besichtigen und die Ergebnisse nach und nach in der Altmärkischen Zeitung zu veröffentlichen". So berichtet er selber. Aus diesen bescheidenen Zeitungsaufsätzen wächst dank ihrem inneren Werte eines der bedeutendsten Werke heraus, die von der Heimatgeschichte geschaffen worden sind: Beiträge zur Geschichte des Kreises Osterburg, 5 Teile, 1905---1913, wahrhaft vorbildlich in der liebevollen und wissenschaftlichen Sorgsamkeit, mit der hier die Geschichte eines jeden Ortes von vorgeschichtlichen Anfängen bis zur Gegenwart sprachlich und landschaftlich, in seinen großen und kleinen Denkmälern, in Kirche und Schloß, in Haus und Hof, in seinen Bewohnern und den heraustretenden Persönlichkeiten, in den vielfältigen Urkunden durch die Jahrhunderte hindurch dargelegt und wie damit ebenso die Geschichte zu unmittelbarer Nähe herangeführt wie die Heimat als ein lebendig gewachsener Organismus aus den Tiefen des Geschehens zum bewußten Verstehen erhoben wird.

Ist etwas noch erstaunlicher, als was hier der Altmärker Pfarrer auf seinen Wanderungen geforscht und zusammengefügt hat, so ist es die Hingebung, mit der er die Neubearbeitung des Werkes geschaffen hat, seit ihm der Ruhestand (1935) mehr Zeit dafür ließ: die zwei ersten Teile sind hier teilweise so gut wie ganz neugearbeitet in zwei mit einer Anzahl wertvoller Abbildungen ausgestatteten Bänden, denen die Funde und Forschungen der letzten Jahre, zumal auf frühgeschichtlichem, mittelalterlichem und kunstgeschichtlichem Gebiete eingefügt sind. Im August 1937 erschien der 1. Band, wiederum zuerst gedruckt in Aufsätzen der Osterburger Zeitung, im September 1938 der 2. Bis zuletzt hat der 77jährige Verfasser an die Weiterführung die Hand gelegt, doch konnte er die Erneuerung des dritten Teiles nicht mehr zu Ende führen. Aber auch ohne solches Ende bleibt das Werk von unvergänglichem Werte: es hat sich erfüllt und wird sich weiterhin erfüllen, was der Verfasser als seinen Wunsch dem 1. Teile, 1905, mitgab: „Diese Beiträge möchten die Kenntnis der heimatlichen Geschichte fördern und dadurch die in unserer Zeit besonders notwendige Liebe zur Heimat mehren".

Am Tage feierlicher säkularer Erneuerung des Gedächtnisses Gustav Adolfs, am 20. Juni 1932, hat die Theologische Fakultät der Martin Luther-Universität Halle-Wittenberg dem hochverdienten Manne ihre höchste Würde verliehen und sie ihm bei der Jahresversammlung des Hauptvereins der Provinz Sachsen in Weißenfels an der Stätte verkündet, an der einst der Sieger von Lützen aufgebahrt worden war. Sowie es in der Urkunde der Verleihung des Doktors der Theologie bezeugt ist, wird der ebenso grundbescheidene wie treue Mann wird uns in dankbarer Erinnerung immer lebendig gegenwärtig sein:
„Ernst Wollesen, der durch mehr als vier Jahrzehnte der Kirche mit hingebender Treue in vorbildlicher Amtsführung gedient, in unermüdlichem Eifer die Erforschung der Geschichte unserer engern Heimat gefördert und für die Zwecke des Gustav Adolf-Vereins wirkend und werbend seine ganze Kraft eingesetzt hat."

Johannes Ficker, Halle.