Ernst Wollesen (1862–1939) – Pastor, Chronist und Heimatforscher von Werben

Herkunft und frühe Prägungen (1862–1883)

Ernst Heinrich Wollesen wurde am 30. September 1862 in Pritzwalk als Sohn des Archidiakonus Christen Wollesen und seiner Ehefrau Pauline Caroline, geb. Dehnke, geboren. Seine Taufe vollzog der Vater am 9. November in der St.-Nicolai-Kirche; die frühe Kindheit stand im Zeichen eines geistlich geprägten Elternhauses wie auch einschneidender Verlusterfahrungen, denn der Vater verstarb bereits 1866. Der schulische Weg führte den begabten Schüler von 1876 bis 1883 an das Königliche Pädagogium in Züllichau in der Neumark.

Studium, Examina und Ordination (1883–1888)

Von 1883 bis 1886 studierte Wollesen Theologie in Halle an der Saale. Die beiden theologischen Examina legte er am 20. Januar 1887 in Halle und am 26. Juni 1888 in Magdeburg ab. Praktische Erfahrungen sammelte er 1887 als persönlicher Hilfsprediger in Reideburg und in einem Seminarkurs in Berlin. Seine Bewerbung um die Diakonatsstelle an St. Michaelis in Zeitz blieb zunächst erfolglos; die Vokation nach Werben an der Elbe folgte jedoch bald. Ordination und Vereidigung erfolgten am 14. November 1888; die feierliche Einführung als Diakonus der St.-Johannis-Kirche fand am 9. Dezember 1888 statt.

Werben I – Diakonus und Stadtchronist (1888–1899)

Mit dem Amtsantritt in Werben begann jene enge Bindung an Stadt und Region, die Wollesen zum maßgeblichen Chronisten der Altmark machen sollte. Am 1. Februar 1889 heiratete er Hedwig Auguste Martha Jach aus Mertensdorf; aus der Ehe gingen vier Kinder hervor (Else, Hildegard, Christian, Hans), die sämtlich in Werben geboren wurden. Neben seinen seelsorgerischen Pflichten widmete sich Wollesen mit großer Gründlichkeit der Werbener Stadtgeschichte. Als Vorsitzender des Bürgervereins hielt er geschichtliche Vorträge, erschloss systematisch das Kirchen- und Ratsarchiv, konsultierte das Staatsarchiv in Magdeburg und pflegte einen fruchtbaren Austausch mit regionalen Gelehrten. Ergebnis dieser Arbeit war 1898 die im Selbstverlag erschienene „Chronik der altmärkischen Stadt Werben und ihrer ehemaligen Johanniterkomturei“, ein Fundament der lokalen Historiographie. 1899 edierte er die „Bruchstücke aus der Autobiographie eines Predigers“ aus dem Nachlass seines Vaters.

Ellrich – kurze Zwischenstation (1899–1902)

Im Oktober 1899 nahm Wollesen den Ruf als Oberpfarrer nach Ellrich (Harz) an. Die Einführung erfolgte am 21. Oktober. Diese Phase blieb bewusst kurz: Nach nur drei Jahren eröffnete sich die Möglichkeit zur Rückkehr in die Altmark – eine Aussicht, die den mit Werben eng verbundenen Geistlichen und Heimatforscher erkennbar anzog.

Werben II – Oberprediger, Ortsschulinspektor und Heimatforscher (1902–1912)

Der zweite Werbener Lebensabschnitt ist der Höhepunkt von Wollesens Wirken in und für Werben. Als der langjährige Oberpfarrer Karl August Lüders zum 1. Oktober 1902 in den Ruhestand gehen wollte, sprachen sich rund 300 Werbener Bürger in einer Petition für Wollesen als Nachfolger aus – ein starkes Vertrauensvotum aus der Stadt. Nach Probepredigt (12. Oktober) und Bestätigung (15. November) wurde Wollesen am 7. Dezember 1902 feierlich in sein Amt als Oberprediger eingeführt; am 11. Dezember folgte die Ernennung zum Ortsschulinspektor.

In Werben entfaltete Wollesen erneut eine außergewöhnliche publizistische Tätigkeit. Zwischen 1903 und 1912 veröffentlichte er in lockerer Folge in der Altmärkischen Zeitung seine „Beiträge zur Geschichte des Kreises Osterburg“; der Osterburger Verleger Theodor Schulz fasste sie 1905–1913 in fünf Teilen zusammen. Diese Darstellung von über 80 Ortschaften und Wüstungen der nordöstlichen Altmark wurde zum Standardwerk und blieb für Forschung und Heimatpflege von dauerhaftem Wert.

Wollesens wissenschaftlich fundierte Arbeit prägte auch das städtische Selbstverständnis. Anlässlich der 900‑Jahr‑Feier Werbens am 24. September 1905 erhielt er den Roten‑Adler‑Orden IV. Klasse mit der Jubiläumszahl „50“. Seine historischen Ausführungen trugen dazu bei, dass Kaiser Wilhelm II. der Stadt eine Replik des Denkmals Markgraf Albrecht des Bären schenkte, die am 11. November 1906 feierlich eingeweiht wurde. Wollesen hielt zu beiden Festakten die Vorträge und würdigte das Monument 1908 in einem Aufsatz.

Für Besucher und Bewohner schuf er 1905 den kompakten „Führer durch die altmärkische Stadt Werben, insbesondere durch die Johanniskirche“, der wegen seines praktischen Nutzens mehrfach neu aufgelegt wurde (1910, 1927, 1934). 1910 legte er zudem eine zeitnahe Darstellung der Elbüberschwemmung in der Wische 1909 vor, die amtliche Unterlagen, Presseberichte und eigene Beobachtungen verknüpfte. Zahlreiche kleinere Beiträge in regionalen Jahrbüchern, Vereins- und Tagesdruckschriften ergänzten dieses Œuvre. In Summe begründete Wollesen in dieser Werbener Dekade sein Profil als Pfarrer mit wissenschaftlicher Akribie und bürgernaher Vermittlungskraft.

Zeitz – Pfarramt und anhaltende Verbundenheit mit der Altmark (1912–1935)

1912 folgte Wollesen dem Ruf an die neu geschaffene vierte Pfarrstelle der Zeitzer St.-Michaelis-Kirche. Die Probepredigt hielt er am 21. April; die Berufung erfolgte am 5. Mai; die feierliche Einführung am 2. Juni. Trotz des Ortswechsels blieb die Altmark sein Hauptforschungsfeld. Er veröffentlichte weiterhin altmärkische Studien, u. a. zur Herkunft der von Beneckendorff und von Hindenburg, und engagierte sich in Zeitzer Geschichtsvereinen sowie im Gustav‑Adolf‑Werk. 1922 wurde er zum dritten Pfarrer an St. Michaelis berufen. Der Tod seiner Frau Hedwig am 10. März 1928 traf ihn schwer, minderte aber nicht seine Forschungsenergie. 1929 beteiligte er sich mit einer umfangreichen Studie „Stendal und die Hanse“ an der Festgabe zur Jahrestagung des Hansischen Geschichtsvereins; 1931/32 publizierte er mehrere Aufsätze zu Gustav Adolf und trat in Werben als Festredner auf.

Eine besondere Ehrung erfuhr Wollesen am 20. Juni 1932: Die Theologische Fakultät der Universität Halle‑Wittenberg verlieh ihm die Ehrendoktorwürde für seine vorbildliche Amtsführung, seine unermüdliche Förderung der Heimatforschung und sein Wirken im Gustav‑Adolf‑Verein.

Ruhestand, Neubearbeitung der „Beiträge“ und Tod (1935–1939)

Zum 1. Oktober 1935 trat Wollesen in den Ruhestand; die Abschiedsfeier in St. Michaelis Zeitz am 6. Oktober würdigte ihn als Seelsorger, der die arbeitende Bevölkerung wie die Jugend gleichermaßen erreichte. Nun wandte er sich mit ganzer Kraft der Neubearbeitung seiner großen altmärkischen Arbeit zu: Der 1. Teil erschien 1936/37 zunächst als Serienabdruck in der Osterburger Zeitung und 1937 als Buchausgabe im Kreisheimatmuseum Osterburg; der 2. Teil folgte 1938 (ebenfalls vorab in der Zeitung). In die Neubearbeitung flossen aktuelle Erkenntnisse der Vor‑ und Kunstgeschichte ein; das Denkmal‑Inventar des Kreises Osterburg (1938) nutzte er intensiv. Die Arbeit am 3. Teil blieb unvollendet. Wollesen verstarb völlig unerwartet am Dienstag der Karwoche, dem 4. April 1939, in Zeitz; die Trauerfeier fand am Karsamstag in St. Michaelis statt, die Beisetzung erfolgte an der Seite seiner Frau.

Familie, Haltung und Nachwirkungen

Aus der Ehe mit Hedwig Jach stammten vier Kinder. Die Familiengeschichte spiegelt die Brüche der Zeit: Die Tochter Hildegard Hollaender geriet durch die Verfolgung ihres Mannes, des Naumburger Rechtsanwalts Dr. Otto Hollaender, früh in den Sog der nationalsozialistischen Repressionen; der geistig behinderte Enkel Johannes wurde 1941 in der Landesheilanstalt Uchtspringe mutmaßlich im Rahmen der „Aktion T4“ ermordet, der Enkel Peter 1942 im KZ Sachsenhausen getötet. Wollesen stand dem Regime distanziert gegenüber. Andere Nachkommen überlebten den Krieg; sein Sohn Christian diente nach 1918 in der Ordnungspolizei, der jüngste Sohn Hans ist 1939 in Zeulenroda nachweisbar. In Naumburg erinnern seit 2010 Stolpersteine an die Opfer in seiner Familie.

Vermächtnis für Werben und die Altmark

Ernst Wollesen war in Werben sowohl Seelsorger als auch Gestalter einer erinnerungsbewussten Stadtgesellschaft. Seine „Werbener Chronik“, die „Beiträge zur Geschichte des Kreises Osterburg“, der Werben‑Führer und zahlreiche Aufsätze schufen eine tragfähige Wissensbasis über Stadt und Umland. Die Mitwirkung an der 900‑Jahr‑Feier und die Albrecht‑der‑Bär‑Stiftung verliehen Werben eine identitätsstiftende Symbolik, die bis heute sichtbar ist. In der Verbindung von Forschung, Archivarbeit und verständlicher Darstellung lebte er das Ideal eines Pfarrers, der Heimatgeschichte als bürgerliche Aufgabe begriff und der Altmark eine Stimme gab. Für Werben ist Wollesen deshalb mehr als eine historische Gestalt: Er ist der maßgebliche Chronist der Stadt, dessen Werk Forschung und Heimatpflege bis in die Gegenwart prägt.

Die Biografie basiert auf einem sehr ausführlichen und aufwendig recherchiertem Artikel zum Leben von Ernst Wollesen von Christian Falk, veröffentlicht in den Altmark Blättern am 11. und 18.10.2014.