Der Kronprinz im Überschwemmungsgebiet.

Es war am Mittwoch, den 17. Februar, mittags gegen ¾ 1 Uhr, als ein Zug von sechs bis acht Wagen in schneller Fahrt in das Seehäuser Tor der guten alten Stadt Werben hinein fuhr. Auf dem ersten Wagen saß neben dem den Werbenern sehr wohlbekannten Landrat von Jagow ein Kürassier-Offizier. Noch ehe die rasch herbeigeeilten Werbener recht zur Besinnung gekommen waren, war auch der Wagen fast schon vorbei. Da erst erkannten sie in dem schlichten, freundlich dreinschauenden Offizier den Kronprinzen, da erst riefen sie ihm ein herzliches Hurra nach. In den dem kronprinzlichen Gefährt folgenden Wagen befanden sich die Minister von Arnim und von Moltke, der Oberpräsident von Hegel, der Regierungspräsident von Borries, die Adjutanten des Kronprinzen, hohe Beamte des Ministeriums in Berlin und der Regierung in Magdeburg. In der Werbener Seehäuser Straße hielt der Wagenzug einige Augenblicke an; der Bürgermeister Kruse-Werben teilte dem Kronprinzen den Eingang zweier Depeschen und einer größeren Geldsumme an seine Adresse mit. Dann ging die Fahrt weiter über den Markt, durch die Markt- und Kirchstraße, aus dem Räbel‘schen Tore hinaus nach Berge zu. Unterwegs während der Fahrt erstattete der Deichhauptmann, Ökonomierat Hoesch-Neukirchen, dem Kronprinzen Bericht über seine Tätigkeit.

In Berge am alten Deich hielten die Gespanne; nur der erste Wagen fuhr auf den Deich, die Herren stiegen aus; Herr Pfarrer Hübener-Berge berichtete über die Schreckenstage und -Nächte. Dann wurde die Strecke auf dem alten Deich bis an den neuen Deich zu Fuß zurückgelegt. Noch war auf dem neuen Deich der Weg bis zur Durchbruchsstelle nicht freigelegt; doch der Kronprinz ging auch dahin vor; einer immer hinter dem andern stieg über die Eisschollen, während die dort mit dem Freilegen des Deiches beschäftigten Arbeiter, die Axt in der Hand, grüßend zur Seite traten. Unmittelbar neben der Bruchstelle hatten sich in dem Augenblick des Durchbruchs, geschoben durch den frei gewordenen Strom, die Schollen am höchsten geschichtet; bis 2½ m hoch lagerten die fußdicken Schollen hier übereinander. Der Kronprinz, die hohen Beamten, die Arbeiter, die Besitzer und die Zuschauer standen an der noch immer gefährdeten Stelle dicht neben einander. Hier erklärte der Meliorations-Baubeamte aus

Magdeburg dem Kronprinzen, daß durch die etwa 150 m breite Bruchstelle der gesamte Strom der Elbe abgeleitet wäre, da unterwärts bei Räbel die Elbe bis auf den Grund durch Eispackungen verstopft wäre, und daß stündlich 43000 cbm Wasser schätzungsweise hindurchströmten. Vor dem Abmarsch durch die Gletscher nahm der Kronprinz selbst ein Bild von den sich türmenden Eisschollen auf, zog bei dem Hofbesitzer Grobleben-Berge Erkundigungen über den Lageplan ein und sprach auch mit den Arbeitern. Jener Hofbesitzer bot ihm seine Schippe an, damit der Kronprinz darauf gestützt, bequemer zurückgelangen könnte; ein 20 Markstück lohnte

Seine Aufmerksamkeit. In Werben und Berge hatte der Kronprinz den grüßenden Jungen, die seinem Wagen nachliefen, blanke Dreimarkstücke in die Hand gesteckt. Von Scholle zu Scholle springend; stieß sich mancher hart den Fuß und glitt auch wohl aus. Auf dem alten Deich stand der erste Wagen zum Einsteigen bereit. In rascher Fahrt ging es nun auf dem alten Deich nach der zweiten Durchbruchstelle nach Kannenberg. Hier begrüßte Rittergutsbesitzer Fischer-Kannenberg den hohen Gast, indem er seiner Freude darüber Ausdruck gab, daß der Kronprinz sie in ihrer Not aufgesucht hätte. Hier im Anblick der zerstörten Wohnungen beschenket der Kaisersohn die Arbeiterinnen und Arbeitern, die nichts weiter gerettet hatten, als was sie auf dem Leibe trugen. Nach ein

stündigem Aufenthalt ging es über Berge nach Werben zurück. Hier traf der Wagenzug etwa um ¾4 Uhr wieder ein, bewegte sich durch die Lange Straße nach dem interessanten Elbtor, dann durch die Elbstraße über den Markt, fuhr Schritt vor Schritt an der St. Johanniskirche und dem davor stehenden herrlichen Denkmal Albrecht des Bären, einem Geschenk unseres Kaisers, vorbei, um dann vor dem Haverland’schen Gasthause Halt zu machen. Hier nahm der Kronprinz mit seinem Gefolge den Kaffee ein. Nach etwa einhalbstündiger Pause setzte sich der Wagenzug unter dem begeisterten Hurraruf der zahlreich vor dem Gasthause versammelten Menge wieder in Bewegung. Es war kein Wunder, daß der aufs liebenswürdigste unablässig nach allen Seiten hin grüßenden Kaisersohn auch hier im Sturme aller Herzen erobert hatte.

Die Heimriese sollte noch nicht so glatt von statten gehen. Während des Aufenthaltes des Kronprinzen und seiner Gäste in Werben, Berge ud Kannenberg war das befürchtete Hindernis eingetreten. Die Sonne begann schon zu sinken; eine graue Wolkenwand zog von Abend herauf; das Wasser bei Schönberg kam in Sicht. Die Mühle bei Schindelhöfe im Zwielicht und die Sonne in den Abendwolken boten aus der Entfernung ein malerisches Bild Da kam plötzlich ein Radfahrer entgegengefahren mit dem Ruf: „Das Wasser geht über die Chaussee!“ Rückkehr gab‘s nicht. Glücklicherweise waren schon am Nachmittag zwei Pontons von Seehausen abgegangen, um den hohen Gast sicher nach der Stadt zu bringen. Der Wagentroß hielt; die Insassen stiegen in die Pontons und die eigenartigen Kahnpartie begann. Die Ausschiffung am Seehäuser Tor war schwierig: Ein ins Wasser geschobener Wagen nahm die Herren auf, die auf diese Weise glücklich auf‘s Trockene gelangten. Stürmisch begrüßt, begab sich der Kronprinz im selbstgelenkten Automobil nach dem Bahnhof zurück. „Willst du mitfahren“, meinte er zu einem Jungen, „dann steig auf!“ Und der Junge ließ sich nicht zweimal sagen und fuhr mit. Im Extrazug kehrte dann der Kaisersohn über Wittenberge nach Berlin zurück.

Der Kronprinz, der im Auftrage des Kaisers gekommen war, hatte bei seinem Besuch 18 400 Mark für die Überschwemmten mitgebracht, nämlich 10 000 Mark als Spende des Kaisers und 8400 Mark als Ertrag einer Sammlung, die der Kronprinz auf einem Ball bei Prinz Friedrich Leopold veranstaltet hatte.