Erlebnisse der Anwohner bei der wachsenden Gefahr.

Am Freitag, den 12. Februar, begann die Gefahr für Werben. Wie schon oben bemerkt, wurden die Eisschollen etwas unterhalb Werben bei Neugoldbek über den Deich gedrängt und die dort liegenden Kähne arg bedroht. Es mußte auch auffallen, daß der Landrat mit den Deichhauptleuten hier eintraf und hier die Nacht blieb. Indessen fürchtete am Freitag noch keiner recht die Gefahr. Wer von Geburt an an solchem Strome lebt oder doch wenigstens jahrelang, der denkt leicht: „Es ist ja so oft gut abgegangen, es wird auch diesmal so abgehen.“ Am Sonnabend kam auch der Regierungspräsident mit einigen Herren hierher. Aber auch sein

Erscheinen ließ die Bewohner die große Gefahr, in der sie schwebten, nicht erkennen. Erst, als in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag um 2 Uhr die Feuerwehr alarmiert und die Einwohnerschaft durch die Sturmglocke aus dem Schlaf geschreckt und die Nachricht von dem Überlauf des Wassers über den Räbeler Deich verbreitet wurde, erkannte man die ganze Gefahr klar. Auf dem Deich war es unheimlich: Das mit Eis über und über gefüllte Wasser stieg rapide; die furchtbare Dunkelheit machte die Situation noch schlimmer; von schräg links her dröhnte das Donnern und Poltern der Eismassen, nur übertönt von dem schrillen anhaltenden Pfeifen der Lokomotive der Havelberger Bahn. Erst als die Deichwächter gegen 4 Uhr einen geringen Fall des Wassers meldeten, trat vorübergehende Beruhigung ein. Und als am Sonntag mittag die Nachricht von dem Deichbruch bei Berge hierher gelangte, sahen sich die Werbener zunächst aus der schlimmsten Gefahr befreit.

Über die Erlebnisse der Bewohner von Räbel und Berge berichtet der Pfarrer Hübener in dem Hausfreund-Kalender für das Jahres 1910 anschaulich; es sei gestattet, einiges aus diesem Bericht, eben der Anschaulichkeit halber, wörtlich wiederzugeben:

„Um 1 Uhr (in der Nacht vom 13. zum 14. Februar) schoß das Wasser beim Dorfe Räbel fast überall über den Deich, auf den Kirchhof, auf die Höfe, in die Häuser hinein. Mit Aufbietung aller Kräfte deichte man an den niedrigsten Stellen weiter mit Brettern, Buschwasen und sonstigem Material. Vor der Haustür wurde mit Brettern, Dung, Steinen ein Damm errichtet, um dem überströmenden Wasser das Eindringen zu verwehren. Aber alles Mühen würde vergebens gewesen sein, und Räbel wäre, wie das Dorf liegt, mit Mann und Maus verloren gewesen, wenn nicht etwa um 3 Uhr in der Nacht plötzlich das Überströmen aufgehört hätte. Das Wasser fiel. Auf dem jenseitigen Ufer war der Deich zwischen Elbe und Havel gebrochen und Wasser strömte durch den Bruch in die Havelniederung hinein, ohne wesentlichen Schaden zu tun. Bei Tagesgrauen war in Räbel das Wasser so weit gefallen, daß der Deich ½ m Bord zeigte. Räbel war gerettet und damit zugleich Werben, Wendemark usw.

Unterdessen sollte auch unsere Nachtruhe in Berg nur von kurzer Dauer sein. Um 2 Uhr ertönte die Stromglocke. Alle verfügbaren Mannschaften eilten nach Räbel, wie befohlen war. Ich stellte Licht ins Fenster, wie auch mein gegenüber wohnender

Nachbar tat, öffnete Torweg und Ställe um etwa flüchtendes Vieh aufzunehmen, horchte in die Nacht hinaus und glaubte das Überströmen des Wassers von Räbel zu hören… Ein Wagen donnerte vor’s Haus; es war der Deichhauptmann. „Herr Pastor, ist hier alles wach? Ist die Sturmglocke gezogen? Alles in Ordnung! Guten Morgen! Weiter!“ Der Wagen donnerte davon nach Räbel. Man ging auf den Deich und lauschte, hörte, wie fremdes Vieh auf die Nachbarhöfe getrieben wurde, ging wieder ins Haus und so fort, den Morgen erwartend, der endlich heraufzog. Ich fuhr nach Räbel, wo alle mit übernächtigten Gesichtern eifrigst beschäftigt waren, Vieh und Menschen in Sicherheit zu bringen... An Gottesdienst war nicht zu denken.

Auch in Berge mußte der Gottesdienst ausfallen, denn die Gefahr war hier aufs höchste gestiegen. Wir gingen nach dem Eckdeich (bei der Gänsebrinkschleuse, wo der alte Deich wieder mit dem neuen Deich zusammentrifft). Die Stopfung zwischen Berge und Räbel war so fest, daß hier von den dortigen Fall des Wassers nicht das geringste zu merken war. Es strömte an vielen Stellen über. Die Schollen drängten und preßten, lagen 2 m hoch auf dem Deich oder waren ganz hinübergedrängt und lagen auf der Binnenseite des Deiches. Es war jedermann klar, daß eine Katastrophe unabwendbar war. Die gefährdetste Stelle befand sich im neuen Deiche, 200 m vom Eckdeich entfernt nach Sandau zu, wo das Wasser durch den Deich sickerte und an mehreren Stellen in armdicken Strahlen hindurchströmte. Dort standen der Landrat und der Deichhauptmann, noch einen Rettungsversuch zu wagen. Aber die Leute, welche sich auf die meterhohen, durcheinandergeschobenen Schollen mit Brettern und anderem Schutzmaterial hinaufwagten, rutschten, stolperten, fielen. Es war nicht möglich. Plötzlich stürzte, sprudelte, wogte der Deich neben dem Landrat, und haushoch stützten Erde und Wasser, zunächst wie eine Staubwolke aussehend, mit gewaltigem Fall und Brausen hernieder in den Sandauerholzer Polder, sprang auf dem gefrorenen Erdreich wie eine Kaskade viele Meter wieder hoch und floß dann gurgelnd und schäumend hinein, wie frohlockend über den Sieg, den es über das Gebild von Menschenhand erkämpft hatte. Das war am Sonntag ¾ vor 12 Uhr mittags. Gott sei Dank, sagten wir alle, daß wir den alten Deich noch haben, der unser Dorf und unsere Fluren schützt! Mit einer Art Andacht sahen wir dem furchtbaren Schauspiel zu, wie große Stücke des Deiches mit fort-

gerissen wurden, der Riß sich immer mehr verbreiterte, die Flut ohne Ende herniederströmte und die Gefilde von Sandauerholz nach und nach überflutet wurden.“

Die Bewohner von Sandauerholz waren vom Deichhauptmann schon in der Nacht zum Sonntag zweimal und am Sonntagmorgen zum 3. Male gewarnt worden. Die Leute hätten also Zeit genug gehabt, sich und ihr Vieh in Sicherheit zu bringen; aber sie waren der festen Überzeugung, daß die hohe Lage ihrer Gehöfte sie vor jeder Lebensgefahr sichere. So hatten sie es von ihren Vätern und Großvätern gehört, die manche Überschwemmung mit durchgemacht hatten, bevor der neue Deich gebaut war. Und die Väter und Großväter hatten auch vollständig recht gehabt, denn damals spülte das Wasser langsam wachsend heran. Diesmal aber kam’s mit Sturmesgewalt. So kam es, daß die am allermeisten bedrohten Sandauerholzer mit einer gewissen Ruhe den kommenden Ereignissen entgegensahen.

Wie wacker die Leute an der gefährlichsten Stelle des Osterholzer Deiches gearbeitet und wie erfolgreich, davon haben wir schon oben gehört. Es mag hier aber ein Teil eines Briefes Platz finden, in welchem der Polkritzer Pfarrer Thonke seine Erlebnisse am Morgen des 14. Februar schildert: „Als ich am 14. Februar früh 7 Uhr meinen gewohnten Gang nach dem Filial Käcklitz antrat, sah ich den Weg bedeckt mit den Flüchtenden, Frauen und Kindern, Wagen mit Betten und Hausrat, mit Schweinen und Zugvieh, dazwischen Herden von Schafen und Rindern, Pferden und Fohlen. Unterwegs hier und da helfend und tröstend kam ich an der Käcklitzer Kirche vorüber. Die Türen waren offen, aber nicht für eine zum Gottesdienst kommende Gemeinde. An Gottesdienst war nicht zu denken, sondern die Käcklitzer schafften ihre Sachen dahin, um sie vor dem Wasser in Sicherheit zu bringen. Um Abend war die Kirche von Wasser umgeben. Über Büttnershof und Fährkrug setzte ich meine Wanderung fort und gelangte auf den Elbdeich, auf dem ich, durch strömendes Wasser watend und über Eisberge kletternd, weiter vordrang. 4 km vom Fährkruge sollte die gefährliche Stelle sein. Ich habe das Schauspiel gerade mit angesehen, als der Deich gegen Mittag durchbrach: es war ein gewaltiger Wasserfall. Im Augenblick war ein Loch gerissen, das in wenigen Minuten 20, 30 m weiter riß. Und die Wasser- und Eismassen stürzten mit Brausen und Tosen in das vom neuen und alten Deich umgebene Sandauerholz.“