„Als das Wasser kam.“

Unter diesem Titel hat der Idener Pfarrer, Superintendent Cremer, die Idener Erlebnisse während des Hochwassers sehr anschaulich geschildert. Wir geben seinen Bericht im folgenden wörtlich wieder:

Eine unserer liebsten Kindergeschichten, die unsere Mutter uns nicht oft genug erzählen konnte, waren ihre Erlebnisse im Großelternhaus zu Emmerich am Rhein während einer Hochwasserkatastrophe am Niederrhein im Jahre 1847. Mit Wonne und Gruseln hörten wir, wie das Wasser immer höher gestiegen wäre, bis alle Matten im Hausflur schwammen und alle Möbel tief im Wasser standen. Mit Jubel begrüßten wir die Geschichte von dem dicken Polizisten, der bei dem Umherfahren in der Stadt an eine Laterne stieß und nun ein unfreiwilliges Bad nahm. Mit Angst hörten wir jedesmal wieder, wie es kein Brot mehr gegeben hätte, und wie der Rhein gerade noch zur rechten Zeit wieder in sein Bett zurückkehrte, so daß unsere lieben Großeltern doch schließlich mit unserer Mutter wieder etwas zu essen bekamen. Aber wenn uns unsere Mutter dann das alte Gebet beten ließ:

„Vor Feuer- und vor Wassersnot bewahr’ uns, Herre Gott“ dann haben wir Jungens im Stillen gedacht: „Eine Wassersnot wäre doch mal ganz nett: Kahnfahren, wenn’s Sommer ist, schwimmen (denn das konnten wir schon mit 10 Jahren) und vor allem keine Schule – nein, eine Wassersnot kann so furchtbar nicht sein!“

Wie hätte ich mir träumen lassen, daß mein Dummerjungen-Wunsch mir in meinem Leben einmal so grausig erfüllt werden würde, wie in diesem Jahre. Und erst recht nicht hätten wir und andere mit uns es geahnt, daß mitten im Lande, gar nicht weit von unseres heiligen deutschen Reiches trockener Streusandbüchse, Wassermassen uns umrauschen, ja bedrohen könnten. Wohl las man in uralten Geschichten von großen Überschwemmungen in der Wische, aber das war, als noch kaum Deiche die Wassermassen der Elbe bezwangen und noch keine so ausgebildete Stormbauverwaltung mit peinlichster Gewissenhaftigkeit darüber wachte, daß alles „ordentlich zugehe auf und an dem Strom!“. Heut‘ waren wir sicher vor solchen Katastrophen!

Wirklich? Bisher hätten wir jeden ausgelacht, der uns gesagt hätte, auch uns drohe Wassersnot. Wohl hörten wir, etwa am 5. Februar, daß die Elbe sich bei Wittenberge gesetzt habe, aber das hatte doch nichts zu sagen, das Wasser konnte doch unter der Eisdecke durch abfließen. Daß es gar keine Eisdecke, sondern eine Eisbarrikade, ein Wall von über 40 km Länge, wer hätte das gedacht? Am 12. Februar wurde von der Elbe Gefahr gemeldet, doch meinte jeder, daß die Gefahr wohl nur für die direkten Elbdörfer bestände. Deichmaterial mußte angefahren werden, und die kräftigen Männer mußten kolonnenweis zur Deichwache und zu Deicharbeiten auf die am meisten gefährdetsten Deichstrecke von Osterholz bis Räbel. Sie brachten trübe Nachrichten mit heim: Das Wasser in dem völlig durch die Eismannsen verstopften Elbbette stiege stündlich, ein rechtzeitiges Durchkommen der Eisbrecher wäre nicht mehr zu erhoffen. Schon in aller Frühe mußten am Sonnabend, den 13. Februar, neue Mannschaften an den Deich. Das Rittergut lieferte in langem Wagenzuge Deichmaterial. Aber von eigentlicher Gefahr für unser Dorf verlautete nichts. Wohl hörten wir in den Elbdörfern manche Sturmglocke läuten, doch wir wohnten ja weit von der Elbe. Wir feierten still den Geburtstag meiner Frau und ahnten nicht, wie nahe uns die Gefahr schon war. Da, gegen Abend kam der erste Schreckschuß: Ortsbefehl: daß keiner durfte das Dorf verlassen dürfe, um auf Anforderung

Sofort zur Hilfe zu dem bedrohten Deich zu fahren. Die ganze Nacht hörte nun schon das Fahren und Rennen nicht mehr auf, dachten wir auch immer noch nicht, daß uns selber Gefahr drohe, so fürchteten wir doch für die Nachbarn und Freunde in den Elbedörfern und hielten uns zur Hilfe bereit. Da in der Nacht gemeldet wurde, daß voraussichtlich der Deich bei Räbel brechen würde und dann die Niederung zwischen Iden und Rengerslage voll Wasser laufen, konnte ich am Sonntag früh nicht zum Gottesdienst nach Rengerslage fahren, weil wir eventuell unterwegs vom Wasser überrascht worden wären. In Iden kam am Morgen ein Teil der Männer todmüde von der Deichwache zurück, Verzweiflung in den haten Gesichtern von dem langen vergeblichen Ringen. Eine neue Kolonne fuhr kurz vor dem Gottesdienst wieder zum Deich. Als um ½11 Uhr die Glocken zur Kirche riefen, fanden sich gerade fünf Frauen ein, mit denen ich eine Andacht hielt über den Grundgedanken: „Christ, Kyrie komm zu uns auf die See.“ Es war eine stille Stunde in allem Trubel und Jagen. Aber wie wenig wir immer noch für uns an eine Gefahr dachten, mag man daraus ersehen, daß, als Herr Pastor Hübener-Berge mich um ½1 Uhr telephonisch bat, einen bei ihm zu seinem Geburtstage für den Nachmittag beabsichtigten Besuch nicht auszuführen, da der Deich soeben gebrochen sei, wir noch ernstlicher darüber dachten, trotzdem Berge zu fahren, um dort im Notfalle zu helfen. Daß uns von dem Augenblick an, wo der neue Deich bei Berge brach, die Gefahr mit Riesenschritten näher rückte, ahnten wir kaum. Erst als gegen 5 Uhr abends die Männer von der Deichwache zurückkamen und erzählten, daß das ganze Sandauerholtz innerhalb 4 Stunden voll Wasser gelaufen sei und das Wasser und nun schon in Riesenmengen über den alten Deich ströme, zog eine Ahnung von der Gefahr in unsere Seele. Als ich aber anfing, Holz und Kohlen auf den Boden zu tragen, und mein Nachbar einige gefällte Bäume in seinem Garten mit starkem Draht an seinen Zaun festband, lachte man uns aus. Das Lachen sollte bald vergehen. Da wir schon in der vergangenen Nacht keinen Schlaf gehabt, wollten wir uns gleich nach 10 Uhr zu Bett gehen. Schon hatte wir alles abgeschlossen und waren im Begriff, uns hin zu legen, da hörten wir Rufen und Geschrei auf der Straße: „Das Wasser kommt durch die Schilfwiese, das Wasser brüllt schon!“ Sofort fuhr ich wieder in meine langen Stiefel und in die alte Jagdjacke, und lief mit einer großen

Laterne in meinen Garten, da hierdurch und durch die dahinter gelegene sogen. „Schilfwiese“ das Wasser zuerst strömen mußte. Und wirklich, es kam an: Wie ein entfesseltes Heer der Hölle, brüllend und heulend, so schoß es heran, etwa äußerlich wie eine breite, graubraune, im Galopp ankommende Hammelherde. Im Zeitraum weniger Minuten füllte es die Wiese und tiefen Gräben, und erst am Druck an den Füßen merkte ich, daß ich schon fast bis an die Knie im Wasser stand. Nun fing die Sturmglocke an zu läuten, der Sturm sauste, das Vieh brüllte, die Menschen schrien, kurz, eine Schreckensszene sondergleichen. Wenn das Wasser in gleicher Weise noch zwei Stunden stieg, hatten wir es in den Stuben. Darum noch mehr Kohlen und Holz ins Haus und vor allem Trinkwasser auf den Boden. In diesen ersten Stunden bis morgens ½5 Uhr, wo das Wasser wenige Schritte vor unserem Hause Halt machte, hatte jeder für sich zu sorgen. Da unsere Kinder vor Angst weinten, legten wir sie mit unserem Mädchen in ein großes Bett, und meine Frau und ein lieber Gast unseres Hauses, Frau Pastor H., schleppten mit mir alles auf den Boden, um dort, wenn möglich, 8–12 Tage leben zu können. Als ich hinter-einander etwa 20 Eimer Trink- und Kochwasser heraufbefördert hatte, mußte ich mich fünf Minuten still hinsetzen, so schlug mir das Herz. Endlich stand das Wasser, und nun ging’s noch in der Nacht ins Dorf, um zu trösten, zu raten und nach Kräften zu helfen.

Ein furchtbares Gefühl aber war es, als vom Rittergut her stundenlang gellende Hilferufe von Frauen und Kindern ertönten, ohne daß es auch nur einer wagen konnte, hinzueilen und zu helfen, da der Strom, der zwischen Dorf und Gut floß, jeden unfehlbar mitgerissen hätte. Wie sich nachträglich herausstellte, hatten zwei Frauen mit mehreren Kindern noch vor dem Wasser fliehen wollen und dazu einen großen Ackerwagen bekommen, der von einem Knecht mit zwei Pferden gefahren wurde. Mitten in der Apfelallee überraschte sie das Wasser, das hier gerade am reißendsten strömte. Der Knecht verlor den Kopf, schnitt die Pferde ab und ritt nach dem Gute zurück, Frauen und Kinder in dem rasenden Strom ihrem Schicksal überlassend. Gleichzeitig kam der junge Herr Walter Freise im Einspänner von Rohrbeck. Unter Aufbietung aller Kräfte gelang es ihm, sich mit den beiden Männern der Frauen, die vom Gutshofe auf das Geschrei hin herbeieilten, zu dem Wagen durchzuarbeiten und in stundenlanger harter Arbeit

bis unter die Arme im eisigen Strom unter Einsatz des Lebens, da der Strom die Männer oft umriß und gegen die Bäume warf, alle Insassen des Unglückswagens zu retten. Das Geschrei dieser Frauen und Kinder hatten wir in der Nacht gehört und ließ uns die Situation noch schrecklicher empfinden.

Als der bleigraue Februarmorgen anbrach, schien die Sonne in lauter weiße Gesichter. Das Dorf stand zu einem Drittel im Wasser; die Äcker lagen völlig unter Wasser und Eis. Nun hieß es, da das Wasser immer noch stieg, sich zu verproviantieren und anderen dazu zu helfen. Auch die in ihren Häusern vom Wasser Eingeschlossenen mußten entweder versorgt oder weggeholt werden. Aus großen Backmulden und Brühtrögen waren schnell Fahrzeuge gezimmert. Welch ein Glück, daß wir zwei Kaufleute am Orte haben, die reichlich mit Vorräten versorgt waren! Nur das Petroleum wurde knapp und wir mußten sehr mit Licht sparen. Aber schlimm war es, daß für die vielen Arbeiter in diesem Winter nur kärglicher oder gar kein Verdienst war, so daß es da oft an Barem zum Einkaufen fehlte. Wir haben geholfen, so lange wir konnten, und die Linke nicht wissen lassen, was die Rechte tat, bis die Linke alles wissen durfte, weil die Rechte nichts mehr tun konnte... So verging der Montag bis zum Nachmittag. Da, um 6 Uhr, kam Telephonwarnung, daß der Deich bei Kannenberg nun nochmals gebrochen, und bald stieg das Wasser noch mehr. Immer mehr Häuser mußten geräumt werden, und unser Haus füllte sich mit allerlei Leutchen, von einer 83jährigen Frau, die um ihren „ertrunkenen Strickstrumpf“ jammerte, bis zum kleinen zweijährigen Dorfkind, das selig war, mal mit „Superndent’s Erich“ seinem Bären spielen zu können. So brach die dritte Nacht herein, in der kein Schlaf über uns und ich nicht aus den langen Stiefeln kam. Zwar gelang es mir, gegen Mitternacht die weibliche Bevölkerung meines Hauses und die Kinder zur Ruhe auf Sofas, Betten usw. zu bringen; ich wachte dann als einziger Mann im Hause ruhig für alle und las viel in meiner alten lieben Familienbibel.

Am Dienstag stieg das Wasser nicht weiter. Aber es war auch so hoch genug: Fast die Hälfte aller Häuser im Dorf stand im Wasser. Die Leute waren mit ihrem Vieh auf den höher gelegenen Höfen untergebracht. Gern teilte jeder an Vorräten, was er hatte. Schmerzlich war es nur, so ganz von aller Welt abgeschnitten zu sein. Der Fernsprecher war im wahrsten Sinne

des Wortes der einzige Draht, der uns mit der Außenwelt verband. Und in unermüdlicher Pflichttreue sorgte unser Postagent Kegel dafür, daß wir Tag und Nacht erfuhren, wie es draußen stand. Keine Zeitung, kein Brief erreichte uns in den ersten vier Tagen: Ein Glück auch, daß unser Bäcker gerade reichlich Mehl bekommen hatte, so daß am Essen wirklich keiner Not litt. Freilich, das frische Fleisch fehlte all die Zeit, da der hiesige Fleischer mit am tiefsten im Wasser steckte. Aber es ging auch mal so: „Pökelfleisch und Hühner, Hühner und Pökelfleisch“ war die Parole. Für manche, die wohl in der Wohnung geblieben waren, aber nicht auf dem im Wasser stehenden Herde kochen konnten, kochte meine Frau täglich etwas. Und die ganze Zeit bin ich täglich mit Eimern voll Suppe oder Töpfen mit Essen durchs Wasser gewatet, um einige Familien zu versorgen. Lief das Wasser auch manchmal in die Stiefel, krank geworden ist keiner von uns trotz Eiswasser und Kälte. Zum Erbarmen ging es einer alten 87jährigen Frau, die völlig gelähmt seit Jahren bettlägerig war. Sie wurde in der Unglücksnacht von den Verwandten auf den Boden geschafft und hat dort in einer finsteren Ecke volle 14 Tage, bis das Haus von Wasser und Eis frei war, liegen müssen bei oft 10 und mehr Grad Kälte. Aber sie hat alles überstanden, und erst im Frühjahr hat Gott die alte Dulderin heimgeholt.

Nun hieß es, der Not klar ins Auge schauen und sich selber helfen, soweit es ging. Aber wie? Noch ging keine Post, und bis die offizielle Hilfsaktion an uns herankam, konnte es noch lange dauern. So ließ ich denn durch den Fernsprecher zahlreiche Telegramme an Verwandte und Freunde gehen, in denen ich um Hilfe für meine Dorfleute bat. Und ich hatte die Freude, daß, ehe die offizielle Hilfsaktion uns erreichte, ich in meinem Dorfe aller erste Not ganz allein gewehrt hatte. Es ist keiner leer ausgegangen. Das gab den Leuten wieder Mut. Täglich versuchte man, eine Verbindung mit dem Festland herzustellen. Jedesmal, wenn die Leute hinauszogen, um die Herstellung eines Weges oder eine Überfahrt zu versuchen, zog eine Frau, die von der Höhe hier zu Besuch war, mit einer schwarzen Reisetasche mit, um ja den Anschluß nicht zu versäumen. Sie hat aber auch bis fast zuletzt aushalten müssen.

Am Mittwoch, den 17. Februar, gelang es unseren beiden jungen Lehrern, mit einem Kahn, den das Rittergut dazu hergab, bis Hindenburg zu kommen und von dort einen Sack Briefe und

Zeitungen zu holen. Welcher Jubel, als die freiwilligen Postboten ankamen! Wohl einmal gelang es ihnen, auch am Donnerstag, den 18., durchzukommen, dann setzte der starke Frost ein, der das Kahnfahren unmöglich machte. Wieder hatten wir mehrere Tage keinerlei Postverbindung, bis es gelang, zu Fuß, zu Kahn, zu Wagen und über die Schienen der Kleinbahn, unter denen der Bahnkörper weggespült war, eine täglich einmalige Verbindung mit Goldbeck herzustellen. Da die Kinder im Dorf nur herumlungerten, ließ ich auch vom Freitag ab wieder Schule halten. Wohl war es nur ein halbes Arbeiten, da ja über die Hälfte der Kinder fehlte, aber die Kinder waren doch wieder mehr in Ordnung und Zucht.

Am Dienstag beobachteten wir vom Turm, wie Pioniere die Familie Gieseke aus ihrem zwischen Iden und Busch mitten im Wasser gelegenen Hause retteten und in Pontons nach Hindenburg brachten. Wohl hätten wir, besonders in der ersten Zeit, auch gern mal Hilfe von auswärts gehabt, aber es kam keine, da die Pioniere anderwärts dringender nötig waren, und uns blieb und bleibt nur das erhebende Gefühl, daß wir uns durch die ganze Zeit allein durchgeholfen haben.

Am Sonnabend, den 20., wurde noch einmal mit allen Kräften versucht, einen Weg durch‘s Eis nach Hindenburg zu hauen, um wenigstens zu Pferde nach dem Festland zu können, aber das Eis war zu stark und das Wasser zu tief; die Pferde zerschlugen sich die Beine und die Leute kehrten unverrichteter Sache wieder heim.

Am Sonntag, den 21. Februar, blieb wohl kaum einer aus der Kirche, der eben durch Wasser und Eis durchkommen konnte. Es war ein stilles Seufzen und doch ein frohes und starkes Hoffen, das unsere Andacht geschehen ließ unter dem Zeichen des Wortes: „Der Herr Zebaoth ist mit uns, der Gott Jakobs ist unser Schutz!“ Und wahrlich, es war noch genug zu danken! Kein Menschenleben war verloren, kein Stück Vieh umgekommen; das einzige Opfer war ein alter blinder Hund, der in‘s Wasser geriet und gleich unterm Eis verschwand. Ja, es wurde sogar ein Kindlein geboren, ein Mädel, unsere Wasserjungfer!

Am Montag, den 22., mußte ich nach Rohrbeck, um dort eine verstorbene alte Frau zu beerdigen; der Pastor von Rohrbeck war vor dem Wasser verreist und konnte nun nicht zurück. Also Talar und schwarzer Rock in den Rucksack und dann los im Wasserkostüm mit langen Stiefeln und Joppe. Zu Fuß und zu

Wagen durch‘s Wasser und per Kahn über‘s Wasser, gelang es mir, den trennenden Strom zu überwinden und in Rohrbeck meines Amtes zu walten. Der Kirchhof lag glücklicherweise so hoch, daß die Beerdigung selber keine Schwierigkeiten machte.

Am Dienstag und Mittwoch war stille Wartezeit. Stündlich eilten wir zum Fernsprecher: „Sind die Eisbrecher noch nicht durch? Kein Gedanke! Vor Sonntag nicht!“ Und es eilte doch so sehr! Denn in den Häusern fielen Lehmwände und Kachelöfen ein, so weit das Wasser reichte. Und Handel und Wandel, Arbeit und Erwerb stockten schon fast zwei Wochen! Und wie würde es auf den Feldern aussehen? Fast alles Eis, das die Elbe mitgebracht hatte, lag auf der Idener Feldmark. Die Stimmung im Dorfe wurde trübe und ich hatte viel zu trösten und Mut einzusprechen.

Am Donnerstag, den 25., kamen einige Pioniere mit einem Ponton, die ersten und einzigen, die wir zu sehen bekamen. Sie holten aus dem Gemeindehaus, das tief im Wasser stand, zwei Familien heraus, die vorher weder mit Güte noch mit Gewalt dazu zu bewegen waren, die Wohnungen zu verlassen. Da der Ortsschulze über‘s Eis nach Osterburg war, sorgte ich dafür, daß die Leute gute Mittagsquartiere bekamen und nahm selber zwei Einjährige zu mir. Der Unteroffizier, der die Leute führte, war derartig durchnäßt, da er die Gemeindehäusler durch‘s Wasser getragen hatte, daß wir ihn ein paar Stunden ins Bett packten, weil er Schüttelfrost bekam; seine Sachen trockneten wir in der Zeit. Gegen 5 Uhr verließen uns die braven Soldaten wieder.

Endlich, am Freitag, den 26., kam die Nachricht, daß die Eissperre durchbrochen sei. Und schon am Sonnabend fing das Wasser an zu fallen. Mit gewaltigem Krachen barst das Eis, als das Wasser darunter wegfloß; zahlreiche Sträucher wurden von den Eismassen in den Gärten zerdrückt und zerbrochen.

Das war ein fröhliches Danken dann im Gottesdienst am Sonntag, den 28. Februar. Wohl lagen die Eisberge noch rund um uns, wohl ließ sich der Schaden, den Wasser und Eis angerichtet, noch gar nicht übersehen, aber die Bahn zur Arbeit war wieder frei, unsere Gefangenschaft zu Ende; wir konnten uns wieder rühren und die Arme heben zu fröhlichem Schaffen.

Und das hub gleich am Morgen des 1. März an: Alle Männer des Dorfes schufen mit Äxten und Spaten einen Weg durch‘s Eis nach Hindenburg, nach Busch und nach Rohrbeck. Es war harte Arbeit, das Eis oft zu meterhohen Bergen aufgetürmt,

aber das Werk wurde gern getan; denn hinter dieser Arbeit lag die Gewissheit auf Verdienst, auf Handel und Wandel.

Mein Wagen war der erste, der am Morgen des 2. März unser Dorf verließ, das erste Gespann überhaupt, das seit dem 14. Februar hier gefahren! Denn am 2. März war ich auch befohlen, zur Anwesenheit Ihrer Majestät der Kaiserin in Osterburg zu erscheinen. Es war ein eisiger Schneesturm, durch den wir fuhren. Aber Winterkälte und Eis waren vergessen, als die strahlenden Augen unserer Kaiserin und Königin auf uns ruhten. Und als sie sich sogar nach Einzelheiten erkundigte und meiner Frau und meinen Kindern einen besonderen Gruß bestellte, da war in meinem alten Preußenherzen eitel Sommersonnenschein.

Und Sommersonnenschein ist’s ja auch wieder geworden über meinem lieben Dorf; die Wunden, die Wasser und Eis gerissen, sind geheilt, nächst Gottes Gnade dank der großartigen Staatshilfe und Nächstenliebe, die unsere ganze Wische erfahren. Heut‘ aber verstehe ich den ganzen Ernst, der in jenem alten Gebete liegt: „Vor Feuer- und vor Wassersnot behüt’ uns Herre Gott!“ Und wenn unsere Kinder einst meinen Enkeln etwas aus ihrer Jugendzeit erzählen, dann wird sicher auch denen eine der interessantesten und liebsten Geschichten die sein: „Als das Wasser kam!“