Die Ereignisse bis zum zweiten Deichbruch.
Das Sandauerholz, das etwa 4000 Morgen umfaßt, gehört zum größten Teil Besitzern in Sandau, Büttnershof, Germerslage, Kannenberg und Berge und wird von den genannten Ortschaften aus bewirtschaftet. Es haben sich dort aber auch zwölf Landwirte angesiedelt mit Wohnhaus und Stallungen inmitten ihres Besitzes. In vier Stunden war nun dieses ganze Sandauerholz voll Wasser und Eis; das ging alles so schnell, daß die Bewohner sich völlig von dem Wasser überrascht sahen. Die Häuser standen bis an das Dach unter Wasser. Als nachmittags 3 Uhr die erste Eisscholle sich löste und durch die Bruchstelle stürzte – bis dahin war nur Wasser hindurchgeströmt – da stürzten Schollen auf Schollen nach, zunächst auf den alten Deich zu zwischen dem Eckdeich und Berge. Nach einigen Stunden war in dieser Richtung alles von Schollen so voll gestopft, daß die Strömung sich brach und die Richtung durch die Gänsebrinkwiesen nach Germerslage zu nahm.
Inzwischen war mit dem Oberpräsident der Provinz Sachsen, Exzellenz von Schegel, auch der Regierungspräsident von Borries auf dem Deich bei Berge erschienen. In Behrendorf waren 100 Pioniere aus Magdeburg zur Hilfe eingetroffen. Da es unmöglich war, das Wasser auf Sandauerholz zu beschränken, wurden die in der Wische gelegenen Ortschaften telegraphisch gewarnt. Die gefährdetsten Stellen waren bei Germerslage, Büttnerzhof und Fährkrug; dort war nämlich der alte Deich bei Erbauung der Kunststraße Busch–Fährkrug um 1 m und mehr erniedrigt. Die Pioniere wurden daher zur Hälfte nach Germerslage, zur Hälfte nach dem Fährkrug kommandiert. Sie bauten bei dem ersteren Ort in aller Eile von Strohballen und Steinen einen Wall, der sich aber leider als nutzlos erwies. Als etwa um 4 Uhr nachmittags das Wasser im Polder hoch genug gestiegen war, schob es die neue Verschanzung leicht hinweg und strömte nun über nach Busch zu. Der Deichhauptmann von Knoblauch versuchte mit dem Grafen Bylandt-Rheydt zu Wagen über Büttnershof vorzudringen, mußte jedoch dort umwenden, da sich die Pferde in dem überstürzenden Wasser nicht halten konnten. Das fest verschlossene und verankerte eiserne Tor in Büttnershof gab gerade in diesem Momente dem ungeheuren Drucke des Wassers nach. Es war ein schrecklicher Anblick, wie mit rasender Gewalt das Wasser in den Hof stürzte.
Als es dunkel wurde, war das Wasser im Sandauerholz so hoch gestiegen, daß es nicht nur bei Germerslage und Büttnershof, sondern auch bei Kannenberg, bei der sogenannten Bracke, bei dem Hof Ovelgünne und bei der Pfarre Berge überlief. Es wurde aufgedeicht, so gut es ging. Wer Pferde hatte, fuhr Sand, Säcke, Bretter, Buschwasen nach den gefährdeten Stellen, alle übrigen Mannschaften arbeiteten in der Sandkuhle oder auf dem Deich. Die Kirche in Berge wurde geöffnet und erleuchtet; etwa 30 Personen fanden in derselben für die Wacht zum Montag Zuflucht. Gegen 6 Uhr am Sonntag abend rückten 100 Mann vom Infanterie-Regiment 66 unter Führung der Leutnants von Stöphasius und Rochlitz in Berge ein. Während die beiden Offiziere mit einem Unteroffizier in der Pfarre Quartier nahmen, wurden die Mannschaften im Dorfe untergebracht und die Wache in die Kirche gelegt. Die von dort entsendeten Patrouillen mußten den Nachrichtenverkehr mit den gefährdeten Stellen auf dem Deiche unterhalten, die Mannschaften dagegen mußten in der finsteren Nacht Sand schaufeln, Säcke tragen und im überströmenden Wasser verstauen und Faschinen schleppen; kein Pfahl war in die hartgefrorene Erde zu kriegen; der Sturm kam aus West; die Stalllaternen verlöschten. Es muß furchtbar gewesen sein! Die Bewohner des Pfarrhauses Berge kamen die ganze Nacht nicht zur Ruhe. Der Pfarrer, der an diesem Sonntag gerade seinen Geburtstag hatte, schreibt darüber a. a. O.: „Unsere Leutnants kamen, naß bis über die Knie, liehen sich Strümpfe und Stiefel, lagen eine halbe Stunde auf dem Sofa, eilten wieder davon zum Telephon; Ordonnanzen kamen und gingen; die Hausklingel ging die ganze Nacht. Endlich wurde es hell. Die gefährdetsten Stellen bei Ovelgünne und bei der Pfarre waren gehalten. Das Wasser aber stand überall bis zum Rande hoch.“
Der Deichhauptmann von Knoblauch, der auf dem neuen und auf dem alten Deich von seiner Deichstrecke unterhalb des Deichbruchs abgeschnitten war, hatte für diese Deichstrecke den Deichhauptmann der Mittelschau, Ökonomierat Hoesch-Neukirchen, um Stellvertretung gebeten. Er selbst ließ am Montag von den 4. Pionieren Sandsäcke, vom Fährkrug beginnend, als Schutzwehr auf dem Deiche aufbringen, nahm am Fährkurg zwei Pontons, welche sich von Sandau her mit sehr großen Schwierigkeiten durch das Eis der Elbe durchgearbeitet hatten, in Beschlag, um mit den selben 15 Stück Rindvieh aus Voßhof /Germerslage) zu retten.
Der Riß im neuen Deich war inzwischen 160 m breit geworden. Wasser und Schollen strömten unaufhaltsam durch den Bruch. Neue Gefahr zeigte sich neben dem Elbdeich nach Räbel zu an der sogenannten Rieck’schen Deichstelle, wo das Wasser durch den Deich sickerte und quoll. Hier arbeiteten den ganzen Montag über bis in die Nacht hinein die Sechsundsechziger. An eine Befestigung von der Wasserseite war nicht zu denken, weil gerade hier die Eisschollen in dem Strome bis an die Deichkrone heran sich zu riesenhaften Bergen aufgetürmt hatten. So blieb nichts anderes übrig, als mit Sandsäcken auf der Landseite die Quelle zu stopfen. Noch beim Einbruch der abendlichen Dunkelheit schien es sehr fraglich, ob das Werk hier gelingen würde. Wäre hier der Deich gebrochen, so wären Berge, Räbel und Werben überschwemmt worden. Noch am späten Abend kamen Wagen mit Sandsäcken herbei. Bei Fackelleuchtung wurde die gefährliche Arbeit so lange fortgesetzt, bis sie von Erfolg gekrönt war.
Da aber trat bei Germerslage, dort, wo die Kunststraße auf den alten Deich hinaufführt, das Ereignis ein, das alle befürchtet hatten. Etwa ½ 4 Uhr nachmittags am Montag brach hier auch die letzte Schutzwehr, der alte Deich, gegenüber dem Tagelöhnerhaus, welches den Namen „Trotzenburg“ führt. Der vom Fährkrug her kommende Deichhauptmann von Knoblauch sah, wie gerade der Giebel des genannten Tagelöhnerhauses unter dem Druck der heranbrausenden Wasserfluten einstürzte. Nun ergoß sich das Elbwasser, das so lange noch gehemmt gewesen war, mit unaufhaltsamer Gewalt verderbenbringend in die Wische, und zwar zunächst auf Dorf und Rittergut Busch, zweigte sich aber seitlich auf Osterholz ab, so daß für Rosenhof und Osterholz Gefahr war. Nur durch das Drängschloß an der Rittergutskoppel zu Voßhof wurde dieser Strom abgelenkt links am Pagenhopf’schen Gehöft entlang auf Schwarzholz und Lindenburg; es war, als wollte die Elbe ein neues Bett sich suchen. Aber das Dorf Berge war gerettet. In der Nacht am Montag konnten die geängsteten und übermüdeten Einwohner endlich etwas der Ruhe pflegen. Die Arbeit der Infanterie war getan; am Dienstag um 11 Uhr rückte sie ab, nachdem der Ortspfarrer Hübener ihr für ihre tätige und opferwillige Hilfe herzlichen Dank ausgesprochen hatte.