Die Kaiserin in Osterburg und Seehausen am 2. März 1909.

Es ist morgens gegen 8 Uhr. Noch ist, so schreibt ein Berichterstatter, alles ruhig und still in Osterburgs Straßen, nur die Fahnen, die sich hier und da im Winde blähen, sowie der stärkere Verkehr auf der Eisenbahn geben Kunde davon, daß die Stadt heute der Schauplatz eines für sie außergewöhnlichen Ereignisses werden soll. Da sind fleißige Hände mit dem Reinigen der Straßen beschäftigt, andere streuen Sand. Vergebliche Mühe! Es währt nicht lange, da setzt ein heftiges Schneetreiben ein und bald deckt die winterliche Hülle die Straßen wieder. Trotzdem strömten zahlreiche Besucher von Stadt und Land, von nah und fern herbei, alle von dem Wunsche geleitet, die geliebte Landesmutter von Auge zu Auge zu sehen. Schon zwei Stunden vor dem Eintreffen des Zuges war besonders der Bahnhof von einer in Winterkälte und Schneegestöber tapfer aushaltenden vielhundertköpfigen Menschenmenge belagert. In der Bahnhofs- und Sedanstraße nahmen dann die Vereine und Schulkinder Aufstellung. Endlich, nach langem Harren, traf pünktlich 110 Uhr der aus fünf Wagen bestehende Kaiserliche Sonderzug auf dem zweiten Gleise ein. Zum Empfange waren der Landrat von Jagow und der Osterburger Bürgermeister Hilliges erschienen. Brausende Hurra-Rufe ertönten, als die Kaiserin sichtbar wurde. Im lebhaften Gespräch mit den genannten Herren, mit freundlichem Lächeln schritt Ihre Majestät, die eine schlichte lila Robe und einen Hut mit wallender Straußenfeder trug, durch das Bahnhofsgebäude, bei dessen Verlassen wieder begeisterte Hurra-Rufe die nach allen Seiten hin grüßende Kaiserin empfingen. Vier Automobile standen zur Aufnahme der hohen Herrschaften bereit. Im zweiten nahm die Kaiserin, die Oberhofmeisterin Exzellenz Gräfin Brockdorff und der Kammerherr, Vize-Oberzeremonienmeister Exzellenz von dem Knesebeck Platz. In der Begleitung der Kaiserin befanden sich auch die in Stendal eingestiegenen Herrschaften, Oberpräsident von Hegel und Gemahlin, ferner die Gemahlin des Kommandierenden Generals Frau von Beneckendorff und Hindenburg, ferner der Regierungspräsident von Borries-Magdeburg und Gemahlin, Regierungsrat von Velsen

der Schriftführer des Vaterländischen Provinzial-Frauenvereins, sowie die Vorstandsdame desselben Vereins, Frau Kommerzienrat Hubbe und Fräulein Denecke aus Magdeburg.

Die Fahrt ging unter dem Hurra-Rufen der spalierbildenden Vereine und Schulkinder nach der Taubstummenanstalt. An der Tür der Anstalt überreichte Fräulein von Jagow, die älteste Tochter des Landrats, der hohen Frau einen Fliederstrauß. Aus der Hand einer Taubstummenschülerin nahm die Kaiserin gleichfalls eine Blumenspende entgegen. Landrat von Jagow führte Ihre Majestät in die Aula an den für sie bestimmten Platz. Einen wundervollen Rosenstrauß überreichend begrüßte hier Fräulein Renate Hilliges, die Tochter des Bürgermeisters, die Kaiserin im Namen der Stadt. Hierauf sprach Ihre Majestät die folgenden Worte:

„Eine wehmütige Pflicht hat mich zu Ihnen gerufen. Die große Not, die durch die jüngste Überschwemmung das Land heimgesucht hat, hat mein Herz auf das Tiefste bekümmert. Ich weiß, schon viele helfende Hände haben sich Ihnen entgegengestreckt. Auch mein Sohn, der Kronprinz, hat durch Bildung eines Hilfskomitees versucht, Mittel für die Notleidenden herbeizuschaffen, dennoch war es dem Kaiser und mir ein Herzensbedürfnis, daß ich aus eigener Anschauung mir ein Bild des Unglücks machen wollte. Leider kann ich persönlich den Verlust nicht abwenden, doch kann ich in diesen schweren Tagen Ihre Sorgen von Herzen mit empfinden und mit tragen helfen.“

Der Landrat von Jagow richtete nun an die Kaiserin Worte des Grußes und des Dankes. Sie gelten, so führte er ungefähr aus, zunächst der treu sorgenden Landesmutter, die sich der unglücklichen Kinder des Landes annimmt. Dann aber auch gebührt unser Dank dem Kaiser, der seine lebhafte Teilnahme an dem Geschehenen bereits durch Entsendung des Kronprinzen Ausdruck gegeben hat. Das Erscheinen Ihrer Majestät stärkt den Mut weiter und gibt den Altmärkern die Gewißheit, mit Gottes Hilfe der schweren Schäden Herr zu werden. Der Redner gedachte dann mit Worten höchster Anerkennung der zur Hilfeleistung ins Überschwemmungsgebiet entsandten Truppen aus Stendal, Rathenow, Spandau und Magdeburg. Dank der sich allerorten regenden Liebestätigkeit seien ja heute noch die Speicher wohl gefüllt, aber es könne leicht dahin kommen, daß noch eine größere Not eintrete, wenn es nämlich nicht gelingen sollte, den Deichbruch vor Eintritt der zu erwartenden starken Schneeschmelze zu schließen. Es wären

dann neue Überschwemmungen zu befürchten. Trotzdem verzage man nicht in der Altmark; sie sei der älteste Teil der preußischen Monarchie und mit dem Hohenzollernhause von jeher aufs innigste verbunden. Der heutige Besuch der Kaiserin bilde ein neues festes Band zwischen der Altmark und den Hohenzollern. „Wir begrüßen heute die Majestät“, so schloß der Redner, „mit stolzer Freude als unsere Herrscherin.“

Der Bürgermeister Hilliges gab dann über die Hilfsaktion Aufschluß; er sagte u. a.: „Ununterbrochen mußte die freiwillige Feuerwehr und die Seminarfeuerwehr von Osterburg in die stürmische Nacht aufs Land hinaus, um zu helfen. Endlose Viehherden strömten der Stadt zu. Obdachlose fanden bei der Bürgerschaft freundliche Aufnahme. Der Vaterländische Frauenverein begann seine Tätigkeit. Ein großes Hilfskomitee gehe mit dem selben Hand in Hand, um allen Bedrängten sofort und reichlich zu helfen. In Osterburg befanden sich anfangs 200 Flüchtige, darunter 25 Obdachlose aus Seehausen sowie 400 Stück Groß- und Kleinvieh. Außerdem wurden noch täglich Herden durchgetrieben, die hier rasteten und dann auf die Höhe weiter zogen. Dank der hingebenden Tätigkeit der Hilfskomitees sowie der Sanitätskolonne vom Roten Kreuz, der Feuerwehren usw. wurde man in Osterburg allen Ansprüchen gerecht.

Der Oberpräsident bezeichnete Ihrer Majestät auf der an der Wand hängenden Landkarte das Überschwemmungsgebiet. Es folgte nun die Vorstellung der Vorstandsdamen des Vaterländischen Frauenvereins für den Kreis Osterburg. Die Kaiserin reichte jeder Dame die Hand und richtete an jede freundliche Worte. In der Aula waren ferner die Spitzen der Behörden, die adligen Herrschaften des Kreises und die Herren des Unterstützungskomitees versammelt.

Ihre Majestät begab sich nun zur Turnhalle; vor derselben hatte die Sanitätskolonne unter Führung ihres Kommandeurs, des Assistenzarztes der Reserve, Dr. Schmidt, Aufstellung genommen. Die Kaiserin zeichnete viele der in der Turnhalle anwesenden Damen durch Ansprachen aus und besichtigte mit viel Interesse die eingegangenen Liebesgaben. Frau Rittergutsbesitzer von Knoblauch-Osterholz schilderte ihre Erlebnisse während der Schreckenstage; Ihre Majestät überreichte ihr das silberne Verdienstkreuz für Frauen. Auch ein aus Vater, Mitter und sieben Kindern bestehende Arbeiterfamilie, die mit Mühe aus dem Hochwasser gerettet war,

hatte die hohe Ehre, von der Kaiserin in der leutseligsten Weise angeredet zu werden.

Es erfolgte nun die Abfahrt der vier Automobile nach Seehausen. Trotz des schneidigen Ostwindes und unaufhörlichen Schneetreibens stand auch hier eine dichtgedrängte Menge am Rathaus und in der Hauptstraße, um die Kaiserin zu sehen und zu grüßen. Erst nach ½3 Uhr fuhren die Automobile in scharfem Tempo hier ein; dem ersten Auto entstiegen der Regierungspräsident von Borries und der Landrat von Jagow; die anderen Gefährte fuhren zu allgemeiner Verwunderung am Rathause vorbei in der Richtung auf Werben weiter. Ihre Majestät wollte das Überschwemmungsgebiet, das gleich hinter Seehausen begann, sehen. Als die telephonische Nachricht von Seehausen aus in Werben eintraf, die Kaiserin wäre soeben in der Richtung Werben weiter gefahren, rief sie in Werben begreifliche Bestürzung hervor; auf den Besuch, der ja wegen des schlechten Wetters und Weges leider hatte abgesagt werden müssen, waren die Werbener natürlich nicht eingerichtet. Bei Herzfelde wäre der Kaiserin beinahe ein Unfall passiert. Wegen eines entgegenkommenden schweren Lastfuhrwerkes, dessen Lenker keine Ahnung von den hohen Insassen der Automobile hatte, mußte das Automobil auf den Sommerweg ausbiegen; dabei geriet es in eine tiefe Höhlung, so daß es sich bedenklich zur Seite neigte. Die Kaiserin bestieg das zweite Automobil und befahl, sofort umzukehren. Bald nach 3 Uhr traf die Kaiserin mit Gefolge wieder in Seehausen ein. Am Rathaus wurde sie von Bürgermeister Cain und Superintendent Hennicke empfangen. Die vor dem Rathause versammelte Menge äußerte in stürmischen Ovationen ihre Freude; die Kaiserin dankte freundlich lächelnd nach allen Seiten. In der Eingangshalle des herrlichen Rathauses überreichte Elisabeth Kluth unter poetischer Begrüßung einen Maiblumenstrauß; ein warmer Händedruck war der Dank. Als die Kaiserin den prächtig dekorierten Rathaussaal betrat, grüßte sie freundlich nach allen Seiten, schaute sich prüfend im Saale um und sagte: „Ach, ist es hier schön.“ Nachdem Bürgermeister Cain der großen Freude über den Besuch Ausdruck gegeben und die Kaiserin willkommen geheißen, berichtete Superintendent Hennicke über die Seehäuser Hilfsaktion und Ökonomierat Hoesch-Neukirchen über die Überschwemmung und ihre schlimmen Folgen. Die Kaiserin dankte jedem der Redner durch Händedruck. Darnach begann auch hier die Vorstellung der Seehäuser Frauen-

Vereins-Damen, der Vorstandsmitglieder des Werbener Vaterländischen Frauen-Zweigvereins, des in der Hochwasserzeit treu bewährten Pfarrers Hübner und anderer Herren. Die Kaiserin unterließ es in ihrer Huld nicht, den anwesenden Werbenern ihr lebhaftes Bedauern darüber auszusprechen, daß sie ihre ursprüngliche Absicht, nach Werben zu kommen, wegen des schlechten Wetters und Weges nicht hätte ausführen können. Bald nach ½4 Uhr erschien die Kaiserin wieder auf dem Rathaustritt; wieder ertönten stürmische Hurras, wieder dankte die Kaiserin freundlich nach allen Seiten hin, dann bestieg sie, dem Bürgermeister Cain freundlich die Hand reichend, ihr Automobil zur Rückfahrt nach Osterburg.

Da die Ankunft in Osterburg früher, als man erwartet hatte, erfolgte, hatten sich in den Straßen nur wenig Menschen eingefunden. Auf dem Bahnhof verabschiedete sich die Kaiserin aufs herzlichste, grüßte, mit einem Blumenstrauß winkend, nach allen Seiten und fuhr wenige Minuten nach 4 Uhr unter dem Hurra der am Bahnhof versammelten Menge in der Richtung nach Stendal fort.

Den Eindruck, den der hohe Besuch hinterlassen hat, schildert der Berichterstatter des Altmärkischen Intelligenz- und Leseblattes mit den uns aus dem Herzen kommenden Worten: „Mit Begeisterung sprach man allenthalben von der Liebenswürdigkeit und Leutseligkeit der Kaiserin, dieser Landesmutter im wahrhaftigen Sinne des Worts. Aus dem Herzen aber ringt sich der heiße Wunsch empor, daß uns Ihre Majestät, der herrlichste Diamant in Deutschlands Kaiserkrone, wie sie der Kaiser selbst genannt, noch lange in bester Gesundheit erhalten bleibe. Das walte Gott!“

Von Berlin aus richtete die Kaiserin das folgende Schreiben an den Oberpräsidenten von Hegel:

„Ich kann es mir nicht versagen, Ihnen nochmals auszusprechen, wie sehr Mich der herzliche Empfang gerührt hat, den Ich bei Meinem Besuch der so heimgesuchten Altmark überall gefunden habe. Konnte Ich Mich davon überzeugen, daß die freiwillige Hilfstätigkeit wohl organisiert ist und auf die noch zu erwartenden Ansprüche sich vorbereitet, so hatte Ich auch den Eindruck, daß an der Heimsuchung gegenüber nirgends verzagt. In diesem Sinne habe Ich Seiner Majestät dem Kaiser und König berichtet und hoffe, daß es mit Gottes Hilfe gelingen wird, wieder besseren Tagen in dem nun verödeten Landstrich entgegen zu gehen.

Auguste Victoria.“