Die Ursachen der neuesten Überschwemmung.

Schon am Anfang Februar des Jahres 1909 wurden Anzeichen der Hochwassergefahr sichtbar. Durch das am 6. Februar eingetretene Regenwetter kamen die ungeheuren Schnee- und Eismassen im Gebirge zum Schmelzen. Das Hochwasser sollte den Höchststand vom Jahre 1895 noch um 75 cm überschreiten. Daraufhin war angeordnet worden, daß einfaches Deichmaterial in Osterholz, Rosenhof, Fährkrug, Berge, Räbel und Werben anzufahren, das doppelte Deichmaterial aber bereit zu halten. Da nach dem nur einen Tag dauernden Regen gleich wieder Frost eintrat, erschien jede Gefahr ausgeschlossen. Aber schon in der Nacht vom 10. bis 11. Februar hatte sich das Eis sehr geschoben und an dem Deiche aufgetürmt und ganz besonders gegen den Deich von Kamps gedrängt. Noch waren die bei dem heftigen Ostwinde stark gefrorenen Deiche imstande, dem Drucke der Eismassen Widerstand zu leisten. Daher liefen am 11. Februar noch von keiner Seite her bedrohliche Nachrichten ein.

Am Freitag, den 12. Februar, zeigten sich bedrohlichere Anzeichen der Hochwassergefahr. Es war ein sehr kalter Tag; das Thermometer zeigte bei starkem Ostwinde 15° Celsius. An diesem

Tage kam die Elbe bei Werben zum 4. Male zum Stehen in demselben Winter. Immer weiter stromaufwärts schob sich der Eisstand, welcher von Dömitz an nun schon bis Werben – etwa 75 km weit – sich erstreckte. Zwischen Neugoldbeck und Werben hatte sich das Eis bereits stellenweise über den Deich geschoben. Im Buhnenhaken lagen zwei große Elbkähne vom Eis an den Deich geschoben in sehr gefährlicher Lage. Der Deich hatte nur noch etwa ½ m Bord. Da endlich ließ der scharfe Ostwind etwas nach; das Eis drängte nicht mehr so sehr wie vorher gegen den Deich; es schob sich immer mehr ineinander. Noch war der hart gefrorene Deich kaum verletzt. Dennoch schlugen die maßgebenden Beamten, der Landrat und die Deichhauptleute der Ober- und Mittelschau, für die Nacht ihr Hauptquartier in dem am meisten bedrohten Werben auf, um jederzeit rechtzeitig zur Stelle zu sein. Noch am Abend 8 Uhr kam die Nachricht, daß eine Quellstelle bei Schönberg bedenklich aussähe; glücklicherweise konnte der Deichhauptmann, der selbst dorthin geeilt war, melden, daß die Sache nichts zu bedeuten habe.

In Werben war die Lage ziemlich unverändert, ebenso an den unterhalb von Werben gelegenen Stationen. Daraus war ersichtlich, daß die Gefahr weiter nach oben kroch. Unterhalb Räbel schien sich das Eis gesetzt zu haben, während es bei dem Sandauer Fährkrug noch in Bewegung war. Die Folge davon war ein rapider Aufstau; besonders bei Räbel war die Besorgnis groß, weil etwas oberhalb des Dorfes der Deich sehr niedriges Hinterland und einige Quellstellen hat. Die doppelten Deichwachen wurden am Sonnabend, den 13. Februar, nachmittags, noch verstärkt, die Feuerwehren von Polkritz und Hindenburg alarmiert und die Gemeinden Iden, Giesenslage und Kannenberg gegen Abend zur Hilfeleistung aufgeboten. Im Laufe des Nachmittags trafen der Regierungspräsident von Borries, der Regierungsrat Graf Bylandt-Rheydt, der Wasserbauinspektor Baurat Heeckt an den gefährdeten Stellen ein. Inzwischen stieg mit dem Eis und Wasser auch die Gefahr immer höher. Eine Nacht brach herein, so furchtbar, daß alle die, die sie hier durchlebt haben, sie nimmer wieder vergessen werden.

Alle Vorsichtsmaßregeln waren getroffen. Auf dem Deich zwischen Altenzaun, Fährkrug, Räbel wurde ein Etappendienst dergestalt eingerichtet, daß alle 10 Schritte ein Mann stand, mindestens alle 30 Schritte eine Laterne. Auf diese Weise konnten

Meldungen schnell weitergegeben, konnte auch der Deich am besten bewacht werden. Aber die Gefahr war nicht mehr zu bannen. Der Ostwind drückte auf das Eis und das Eis auf das Wasser, also daß letzteres an verschiedenen Stellen über den Deich lief, so z. B. zwischen Rosenhof und Fährkrug und halbwegs zwischen Fährkrug und der Gänsebrinkschleuse, auch bei der Räbeler Überfahrt über den Deich. Die Stelle oberhalb des Fährkruges wurde mit Dung und Sandsäcken, die unterhalb desselben mit Ballen von Preßstroh und Säcken voll Sand belegt, aber vergeblich. Die Arbeit wurde entsetzlich erschwert durch Kälte und Dunkelheit. Das überfließende, sogleich gefrierende Wasser erzeugte eine ungeheure Glätte. Inzwischen arbeiteten die Osterholzer und Schwarzholzer unentwegt bei Osterholz, wo an der längst als gefährlich bekannten Bertram’schen Deichstelle ungewöhnlich starke zahlreiche Quellstellen bemerkt waren. Bei allen diesen Unternehmungen machte sich das Fehlen eines Telephons im Sandauer Fährkrug recht unangenehm bemerkbar; es wurde daher durch Vermittlung des Regierungspräsidenten nach drei Tagen eine Telephonleitung dorthin gelegt. Einen sehr schwierigen Stand hatte Frau von Knoblauch-Osterholz; Leute gingen ein und aus und wurden beköstigt; dabei wurden in drei Tagen 250 telephonische Gespräche geführt und von ihr notiert.

So senkte sich die dunkle, neblige Nacht immer tiefer und geheimnisvoller auf die Erde. Auf dem sonst so stillen Deiche zwischen Rosenhof und Räbel war ein reges Leben und Treiben. Der matte Schein der Laternen beleuchtete gespenstisch die Männer, die mit aller Anstrengung an der Rettung der gefährdeten Stellen arbeiteten oder mit Schaufeln über der Schulter hin und her gingen und den Deich bewachten oder mit wichtigen Meldungen den eisstarrenden Deich nicht ohne Gefahr für ihr Leben entlang eilten. Auch jenseits bis Sandau wurde eifrig am Deich gearbeitet, wie man aus den hin und her huschenden Lichtern und den rasselnden Wagen erkennen konnte. Etwa um 1 Uhr nachts vernahm man von jenseits Geschrei, gemischt mit Gerassel von Wagen, dem Ruf von Kommandos, dem Ton der durch die stille Nacht hinschallenden Sturmglocken. Es mußte drüben der Deich gebrochen sein. Und in der Tat, es war, wie später bekannt wurde, der rechtsseitige Trenndeich zwischen Elbe und Havel, etwa 150 m unterhalb der Buhnenmeisterei Dom-Mühlenholz, gebrochen. Dadurch trat diesseits ein geringerer Fall des Hochwassers ein: Während um 10:30 Uhr

abends der Pegelstand 7,30 m überschritten hatte, war derselbe nachts 2:45 Uhr auf 7 m und 3:52 Uhr sogar auf 6,96 m zurückgegangen. Man atmete diesseits erleichtert auf, glaubte man doch nun gerettet zu sein. Aber darin irrte man sich sehr. Durch die vor dem Bruch am Mühlenholz befindlichen Eichen hatten die an dieselben anstürmenden Eismassen eine natürliche Wehr geschaffen, so daß verhältnismäßig wenig Wasser durchlief. So zeigte denn auch diesseits der Pegel am Fährkrug um 4:10 Uhr nachts 7,04 m und um 10:30 Uhr vormittags schon über 7,30 m, so daß die Fluten wieder über die Deichkrone stürzten.

Die Nacht war äußerst kalt, der Deich sehr glatt, das Gehen auf dem Deiche sehr gefährlich und beschwerlich. Die Katastrophe nahte.

Der stellvertretende Deichhauptmann von Knoblauch erhielt am Morgen des 14. Februar, des verhängnisvollen und ereignisreichen Sonntags, in Räbel die Nachricht, daß der Deich bei Osterholz bräche und der Deich auch zwischen Räbel und Fährkrug, bei dem König’schen Hause, stark gefährdet sei. Er ging daher mit dem Grafen Bylandt-Rheydt von Räbel auf den Fährkrug zu. Als er an die Gänsebrinkschleuse kam, sah er, daß auf etwa 50 m die Wiese mit einer zusehends zunehmenden gelben Flüssigkeit bedeckt war. Der Deich war in sich zusammengefallen und anfänglich armdicke Quellen, welche sich bald zu bachähnlichen erweiterten, flossen, beständig Sand mit sich führend, am Grund des Deiches auf die Wiese. In richtiger Erkenntnis der großen Gefahr ging der Deichhauptmann nicht nach der gefährdeten Osterholzer Stelle, sondern blieb hier, während Graf Bylandt es übernahm, nach der gefährdeten Stelle bei Osterholz zu eilen. Alle Versuche, den Bruch des Deiches zu verhindern, erwiesen sich als vergeblich. Es fehlte an Material, die Quellstellen zuzustopfen; aber auch das doppelte Material hätte nicht genügt. Außenseits war jede Arbeit durch das anstürmende Eis und überfließende Wasser unmöglich. Die schweren Sandsäcke wurden wie Fußbälle von den Quellen fortgeschleudert. Dennoch wurde weiter gearbeitet, um die Gemüter zu beruhigen. Inzwischen kam das Deichmaterial aus Berge und Kannenberg an. Bretter wurden verbunden, mit Sandsäcken beschwert, in das Wasser außenseits gesenkt, um vielleicht dort die Quellstellen abzufangen. Eine zwecklose Maßregel! Der Bruch war nicht mehr zu verhindern. Der Deichhauptmann von Knoblauch schreibt über das schaurige, folgenschwere Ereignis:

„Als ich gerade aufrecht stand und die Leute neue Sandsäcke füllten, verspürte ich ein Rucken des Bodens, so daß ich etwas hintenüberfiel; ich sprang instinktiv beiseite, die Leute mit fortreißend; in demselben Moment brach der Deich außenseits zusammen. Wenige Sekunden lang blieb eine etwa 1½ m breite Brücke aus zusammengefrorenem Rasen in der Mitte noch stehen, um alsdann mit dem Eis und Wasser zusammenzubrechen. Diese Rasenbrücke fand ich später unversehrt etwa 200 m weiter entfernt auf meiner völlig versandeten Wiese wieder. Wasser und Eis spritzten hoch auf dem gefrorenen Boden auf, wie ein mächtiger breiter Wasserfall dann etwa 5 m hoch spritzend, wieder hernieder fallend und nochmals weniger hoch spritzend, und ergoß sich brausend in den ca. 3000 Morgen großen Polder… Um 11:45 Uhr war der Deich gebrochen.“

Hören wir, wie der Landrat von Jagow die nun folgenden gewichtigen Ereignisse in seinen Aufzeichnungen schildert:

„14. Februar. Es fing an zu grauen, als die Nachricht eintraf, der stellvertretende Deichhauptmann von Knoblauch habe unterhalb, nach Räbel zu, eine stark laufende Quellstelle gefunden, deren Stopfung nicht gelungen sei. Ich ging zu der etwa 2 km entfernten Stelle, dicht oberhalb der Gänsebrinkschleuse, und fand dort Knoblauch mit einigen Männern beschäftigt, eine Quellstelle, die Mittelhöhe des Deiches stark und trübe floß, zu verstopfen. Aber vergeblich! Säcke waren da, aber kein Sand. Das Wenige, was in die Quelle hineingestopft werden konnte, verringerte nicht ihren Fluß, sondern dieser wurde zusehends stärker. Von der Elbseite war nicht anzukommen. Das Eis stand mit einer großen Scholle hart am Deiche; die Ränder waren nicht fest; wer abstürzte, war unrettbar verloren. Sonst hilft man sich gegen solche Quellstellen, indem man die Einlassstelle an der Außenseite aussucht und verstopft und dann von da aus durch Sandsäcke und Faschinen den Deich zu halten sucht. Das war hier nicht möglich. Eine Einlaufstelle war nicht zu finden, vielleicht, weil das Arbeiten an der Elbseite des Deiches zu gefährlich war. Hinter ein durch eingerammte Pfähle befestigtes Flechtwerk Sandsäcke und Erde zu bringen und so einen Deichvorbau zu machen, war nicht möglich, denn es fehlte an Pfählen, Faschinen und Sand sowie an dem dazu unentbehrlichen Kahn; auch war die Erde so fest gefroren, daß weder einen Pfahl hineinzutreiben noch Erde ohne Spitzhacken zu lockern möglich gewesen wäre.

Nachdem wir uns also überzeugt hatten, daß wir mit unseren Mitteln nichts ausrichten konnten und uns nichts zur Rettung einfiel, mußten wir uns mit der Rolle stiller Zuschauer begnügen. Ich stand etwas zurück, Knoblauch mit einem jungen Menschen dicht bei der Quellstelle. Plötzlich hörte ich gleichzeitig ein Brausen und Ausrufe und ich sah, wie das Wasser in 3 bis 4 m dickem Strahl durch den Deich schoß. Knoblauch und sein Begleiter waren unversehrt und zogen sich zu mir zurück. Die Deichkrone hielt und bildete eine Brücke über den Bruch. Wir standen unterhalb. Einige Minuten darauf fiel die Brücke ein, und der Bruch erweiterte sich zusehends. Das Wasser schoß in die Tiefe des Sandauerholz-Polders und stieg im Bogen, eine hohe Welle bildend, nochmals mit der losgerissenen braunen Erde hoch, um sich dann ganz allmählich in dem Polder, der rückwärts durch einen alten Deich geschlossen ist, zu verbreiten. Es war 11½ Uhr mittags, als der Deich brach, und langsam füllte sich der Polder. Ich habe noch lange dort gestanden. Aber es war mir vom ersten Augenblick an klar, daß eine Rettung für die Niederung nicht mehr möglich sei. Zunächst mußte allerdings der Polder voll laufen. Aber der alte Deich war von Trotzenburg bei Kannenberg bis Fährkrug in einer Länge von fast 4 km um 1½ m abgetragen; da das Wasser am Elbdeich zum Überlaufen stand, mußte es dort überlaufen, dagegen war mit unseren Mitteln nicht zu kämpfen. Daß der Deich den starken Überlauf aushalten würde, daran war nicht zu denken. Das Schicksal der Niederung war also besiegelt.“