4. Die weitere Geschichte des Rittergutes.
Unter den Leiden und Nöten des furchtbaren Krieges konnte Joachim Steinbrecher die Güter nicht erhalten. Nach Schl. Chron. überließ Joachim Steinbrecher 1628 die Güter seinem gleichnamigen Sohn. Es war anerkennenswert, daß dieser die Güter noch bis zum Jahre 1661 behaupten konnte. Dann aber war er so verschuldet, daß er verkaufen mußte. Der Käufer ist der Kurbrandenburgische Geheime Rat und Obermarschall von Canstein. Zu den Steinbrecherschen Gütern Neukirchen und Lichterfelde kaufte er noch für 600 Tlr. den Drudenhof bei Werben. Er besaß außerdem noch das Rittergut Schönberg. Zunächst mußten der Käufer und seine Ehefrau Hedwig Sophia von Kracht sich mit den früheren und späteren Gläubigern des Joachim Steinbrecher auseinandersetzen. Das geschah und der Kurfürst als der Lehnsherr bestätigte diese Auseinandersetzung am 23. Juli 1668 mit dem „Bedinge“, daß darunter die hohen Jagden, welche sich der Kurfürst allein vorbehielt, nicht mit in den Kontrakt eingeschlossen werden. Der von Canstein muß aber den Besitz des Gutes in Neukirchen noch nicht gleich angetreten haben; es ist doch zu beachten, daß unter dem 20. April 1674 in dem Werbener Taufregister Herr Joachim Engel, Inhaber des Hochadligen Gutes Neukirchen, genannt wird. Wenn man das Wort „Inhaber“ in seiner natürlichen Bedeutung faßt, so ist dann doch der Joachim Engel und nicht der von Canstein Besitzer gewesen. Aber dieser Besitz des Engel kann nicht lange gedauert haben. Bald finden wir die Güter in dem Besitz des von Canstein und seiner Gemahlin, während der Werbener Henricus Fritze der Justitiarius auf seinen altmärkischen Gütern ist. Die Familie von Canstein, die zu dem älteren Adel Westfalens gehört, ist besonders durch Karl Hildebrand bekannt geworden, der im Jahre 1712 den größten Teil seines Vermögens zur Stiftung der hallischen Bibelanstalt hergab. Raban von Canstein, geboren am 19. August 1617, brachte es zu hohen Ehren und Würden. Im Jahre 1657 ging er als Wahlbotschafter mehrerer deutscher Höfe zur Kaiserwahl Leopolds I., der ihn bei dieser Gelegenheit in den Reichsfreiherrnstand erhob. Nach von Zedlitz-Neukirch, Neues Preuß. Adelslexicon, 1836, starb er am 22. März 1680 als Obermarschall und Wirklicher Geheimer Rat; nach Schl. Chron. starb er erst im Jahre 1685. Uebrigens führte die Familie das folgende Wappen: Im weißen Schilde einen gekrönten Raben, auf dem Helm den Raben vor einer roten, von Pfauenfedern besteckten Säule.
Nach Rabans Tode verwaltete seine Gattin, Frau Hedwig Sophia, geborene von Kracht, zunächst die Güter allein bis zum Jahre 1694; in diesem Jahre übernahmen die nun mündig gewordenen Brüder Karl Hildebrandt und Philipp Ludwig die Güter. Der Lehnsbrief des Kurfürsten Friedrich III. ist datiert vom 30. Juli 1694. Dieser Lehnbrief ist in Schl. Chron. wortgetreu wiedergegeben; er hat darum große Bedeutung, weil er alle Rechte und Einkünfte des Gutes genau aufführt. Wie schon bei dem Vater 1668, so wurde auch hier das Lehn ausgedehnt auf die Kinder, männlichen nicht nur, nein auch weiblichen Geschlechts, wie es denn in unserem Lehnbrief heißt: „Wenn über kurz oder lang des gewesenen Obermarschall Raban von Canstein obgenannte beyde Söhne Carl Hildebrandt und Philipp Ludewig, Gebrüder von Canstein, ohne Hinterlassung Männlicher Leibes-Lehns-Erben abgehen und also der Mannesstamm gänzlich erlöschet werden sollte, das auf solchen Fall diese vor spezifizierte Lehn-Güter auf seine, des Verstorbenen Ober-Hoff-Marschalls Töchter und deren Kind Männlichen und Weibl. Geschlechts kommen, erben und fallen, Sie auch von Uns und unser Nachkommen damit beliehen worden, und hingegen den Roßdienst durch eine taugliche Person, so Uns angenehm, bestellen lassen sollen.“ Die Mutter, Frau Hedwig Sophie von Canstein, vermählte sich mit dem Oberstleutnant Moritz von Offen 1694. Aus der auf sie gehaltenen und gedruckten Leichenrede, die auf der Hauptbibliothek der Franckeschen Stiftungen in Halle aufbewahrt wird, geht hervor, daß Hedwig Sophia von Kracht in erster Ehe mit dem Oberstleutnant Bernhard Friedrich von Arnimb, in zweiter Ehe mit Raban von Canstein und in dritter Ehe mit dem von Offen verheiratet war. Ihr einer Sohn war der am 2. April 1669 geborene Philipp Ludwig. Er besaß die Herrschaft Canstein und die Güter Schönberg, Neukirchen, Blumberg, Eiche und Helmsdorf. Er war vermählt mit Ehrengard Maria von der Schulenburg. Die Ehe war kinderlos. Er fiel als preußischer Oberst und Chef des Gensdarmen-Regiments am 11. Juli 1708 in der Schlacht bei Qudenarde, 40 Jahre alt; so berichtet wenigstens der Historiker König im „Militär. Pantheon“. Nach der Inschrift des in der Kirche zu Blumberg (nördlich von Berlin) befindlichen Denkmals fiel er in der Schlacht bei Malplaquet 1709. Die Fama bekränzt auf diesem Denkmal sein Brustbild mit Lorbeeren. Bei der Geschichte von Wendemark/Neu-Goldbeck haben wir erfahren, daß in derselben Kirche noch ein bemerkenswertes Grabmal ist, das des Großkanzlers Heinrich Julius von Goldbeck, des Chefs der Justiz sämtlicher preußischer Staaten.
Nach dem Tode des Philipp Ludwig von Canstein sind Luise Henriette, verwitwete Freifrau von Friesen, und Margarete Helene, verwitwete Freifrau von Degenfeld, beiderseits Schwestern und geborene Freiinnen von Canstein Erbinnen des Rittergutes Neukirchen. Von ihnen erkauft der Landrat und Deichhauptmann Christoph Franz von Graevenitz das Gut mit allem Zubehör erb- und eigentümlich nunmehr als ein rechtes Erbgut und Allodium; er erklärt sich bereit, anstatt des darauf haftenden Lehnpferdes den jährlichen Kanon mit 30 Tlr. abzuführen. Der Kurfürst und nunmehrige preußische König stellt darüber am 2. Juli 1721 einen Deklarations- und Recognitionsschein aus, dessen Inhalt Schl. Chron. S. 110 und 111 wörtlich wiedergegeben ist. Der von Graevenitz und seine Erben und künftige Besitzer des Gutes sollen es als ein Allodial- und Erbgut besitzen. Der Lehnszusammenhang nebst allen davon abhängenden Verpflichtungen soll aufhören. Die von Gr. sollen also das Gut zu freier Macht haben, auch alle Rechte, Freiheiten, Immunitäten und Privilegien genießen, wie sie Allodialgütern zustehen. Solche Umwandlung eines Lehns in Allod nannte man Allodifikation oder Erbverwandlung. Zu dem Nutzungseigentum erwarb Herr von Graevenitz auch das Obereigentum, was selbstverständlich nur durch Verzicht des Lehnsherrn, also hier des Königs, und mit Zustimmung der Mitbelehnten erfolgen konnte. In dieser Neukirchener Erbverwandlung bekundete der Lehnsherr also dem von Gr. eine besondere Gnade. Von Christoph Franz von Gr. wissen wir nicht viel; er besaß noch Lichterfelde, Schönberg und Losenrade, welches letztere er 1734 (nach Sch. Chron.) verkaufte. Er war vermählt mit Barbara Katharina, geb. von Angern. Die Familie von Graevenitz, oder, wie sie sich auch schreibt: von Grevenitz, hatte ihren Stammsitz in dem gleichnamigen Dorfe bei Stendal; sie breitete sich nach der Prignitz und nach Mecklenburg früh aus; in der Prignitz besitzt sie wohl noch heute Frehne. Die Familiengeschichte kann viele tapfere Helden anführen, die für das Vaterland gestritten, gelitten, gefallen. Wir werden nachher auch von einem solcher Helden berichten können, der einen hohen militärischen Rang und hohe kriegerische Auszeichnungen erlangt hat. Die Familie führt im silbernen Schilde einen Baumstamm mit drei Aesten; dieses Bild wiederholt sie auf dem Helm; hier läuft aber ein Dachs (Gräve) auf demselben (vgl. von Zedlitz-Neukirch a. a. O., II, S. 277). Das Wappen derer von Angern zeigt zwei silberne übers Kreuz gelegte Pfeile mit Widerhaken in einem in der oberen Hälfte weißen, in der unteren Hälfte schwarzen Felde, so daß die Widerhaken oben im weißen Felde stehen. Auf dem mit einem Bunde bedeckten Helm ist dasselbe Bild zwischen zwei Hirschgeweihen. Barbara Katharina von Gr. starb am 15. August 1733, Christoph Franz von Gr. am 15. Oktober 1735; beide sind in dem Gewölbe der Kirche zu Neukirchen beigesetzt.
Das Gut Neukirchen erhielt nun sein Sohn Adam Friedrich von Gr., während das Gut Lichterfelde an die Familie von dem Knesebeck überging. Adam Friedrich war vermählt mit Eleonore Charlotte von Jagow. Das Wappen derer von Jagow ist bekannt; es zeigt im weißen Felde ein rotes Rad, als Helmzier einen silbernen, an den Ohren mit goldenen Lilienstäben besteckten Dachs. Adam Friedrich von Gr. starb im Alter von 59 Jahren am 20. Oktober 1762 und wurde beerdigt in der Neukirchener Kirche zwischen Altar und Hochadl. Stuhl. Seine Gemahlin starb im Alter von 70 Jahren am 30. März 1769. Das Todesdatum der letzteren ist aus Schl. Chron. entnommen. S. 112; es stimmt dort nicht mit dem auf Seite 82 angegebenen Endjahre ihrer Gutsverwaltung.
Das Rittergut Neukirchen erhält nun Friedrich August von Graevenitz. Er war in erster Linie Soldat, ließ darum sein Gut verwalten; als Soldat war er fast immer bei seinem Truppenteil; er hatte nicht viel Zeit, sich um seinen Landbesitz zu kümmern. Da war es kein Wunder, wenn es mit seiner Heereslaufbahn zwar aufwärts, mit seinem Landbesitz aber abwärts ging. Schl. Chron. teilt uns eine recht bezeichnende Aeußerung seiner Schwester Friederike mit: „Wer es nachgehend bekömmt und muß davon so viel auszahlen, wird eben, wie du gewesen, in Sorge und Mühe kommen und schwerlich das prästieren, was Du bei dem so verschuldeten Gut getan.“ Und sie hatte recht. Der Bruder sah sich genötigt, im Jahre 1797 sein Gut Neukirchen zu verkaufen. Der Käufer war Christian Friedrich Schulze in Seehausen. Wie der von Graevenitz Neukirchen an den Seehäuser Kaufmann Christian Friedrich Schulze verkaufte, so tat es auch der von dem Knesebeck mit seinem Rittergut Lichterfelde, auch er verkaufte an denselben Schulze, der 1798 die Genehmigung zum Ankauf dieser Güter vom König erhielt. In seiner militärischen Laufbahn stieg von Graevenitz von einer Stufe zur anderen empor: Seit 1792 Chef eines Regiments in Bayreuth, später in Glogau, seit 1795 Inspekteur der südpreußischen Infanterie, seit 1788 Ritter des Roten Adlerordens, seit 1791 auch des Verdienstordens, seit 1798 Generalleutnant. Als er 1805 seinen Abschied nahm, wurde er General der Infanterie. Geboren 1723, starb er 1809.
Christian Friedrich Schulze gibt das Rittergut seiner Tochter Maria Gertraut, welche mit Christian Dietrich Ludwig Litzmann vermählt war. Letzterer starb 1806. Aus der Inschrift seines Grabsteins am Ostgiebel der Kirche erfahren wir, daß er am 16. Juli 1741 geboren war und daß er Königl. Preußischer Kriegs- und Domänenrat sowie Gutsbesitzer von Neukirchen, Dalchow und Lichterfelde war, daß er ein treuer Gatte und liebevoller Vater sowie ein tätiger Staatsbürger war und fünf Kinder hinterließ. 20 Jahre später starb auch seine Gattin und fand neben ihm ihre letzte Ruhestätte. Das Rittergut ging nun auf den Sohn Ferdinand Theodor über. Er kaufte 1834 den Ackerhof von Frau Fink hinzu und errichtete für sie und seine Familie ein neues Grabgewölbe im Gutspark. Im Jahre 1853 übernahm Albert Litzmann das Rittergut; er war noch imstande, das väterliche Erbe zu erhalten, aber von seinen Söhnen war keiner bereit, den Besitz zu übernehmen, daher wurde das Rittergut im Jahre 1890 an Felix Hösch aus Düren im Rheinland verkauft. Der neue Besitzer wurde bald als ausgezeichneter Landwirt in der ganzen Provinz und weit über ihre Grenzen hinaus bekannt und hoch geschätzt. An Ehren fehlte es ihm nicht: Er war Amtsvorsteher, Kreisdeputierter, Mitglied des Kreistages und Kreisausschusses, Mitglied des Reichstages und des Preuß. Landtages; 1902 wurde er zum Oekonomierat, 1899 zum Deichhauptmann ernannt. Von der Universität Halle wurde ihm 1914 ehrenhalber die Doktorwürde, 1910 von der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft die „Silberne Eydt-Plakette“ und 1925 die „Große bronzene Eydt-Plakette“ verliehen. Als einer der ersten wurde er vom Preuß. Landwirtschaftsminister durch den „Silbernen Ehrenschild für Verdienste um die Landwirtschaft“ ausgezeichnet. Infolge wirtschaftlicher Schwierigkeiten verkaufte er 1930 das Rittergut an die Siedlungsgesellschaft Sachsenland in Halle a. d. S., die nun dasselbe aufteilte und versiedelte.