Die Schale des Kelches.

Nachdem wir an dem Fuße des Kelches das Geheimnis der Menschwerdung und an seinem Griffe das der Erlösung erkannt haben, dürfen wir an seinem Becher kaum etwas anderes erwarten, als das Mysterium des Meßopfers. Und zu dieser Voraussetzung stimmen dann auch aufs vollkommenste die vier Darstellungen: Abrahams Opferung, Melchisedek, die eherne Schlange und die Witwe von Sarepta.

a) Das erste Bild stellt die Szene aus 1. Mose 14, Vers 18-20 dar und trägt die Umschrift: „Melchisedek rite dat Abram duo munera vitae“, auf deutsch: „Melchisedek bringt dem Abram feierlich die beiden Gaben des Lebens dar". Abram kommt aus dem Feldzug gegen die neun Könige siegreich zurück; er bringt den Zehnten von der gemachten Beute dem Könige Melchisedek von Salem, dem Priester Gottes des Allerhöchsten, dar, welcher ihm, seinerseits segnend, mit Brot und Wein entgegentritt. Melchisedek erscheint mit dem Hostienkelch in der Hand in der Tracht eines christlichen Priesters, angetan mit der altertümlichen Casula, die er mit den Armen emporhebt. Unter derselben trägt er die Alba mit übergehängter Stola, die Kopfbedeckung allein erinnert an den alttestamentlichen Priester. Den Zehnten bringt Abram, dessen Gestalt nicht vollständig zu sehen ist, hier auf einem unterbreiteten Tuche dem Melchisedek dar. Die Szene selbst ist in eine Kirche verlegt, hinter Melchisedek erblickt man den Altar.

b) „Die Opferung Isaaks" mit der Umschrift: „Abraam immolat filium Suum Isaak“, auf deutsch: „Abraham opfert seinen Sohn Isaak". Abraham, der seines einzigen Sohnes nicht verschont (Gen. 22 Vers 12), ist ein Vorbild Gottes, welcher auch des eigenen Sohnes nicht verschont, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben. Isaak also ein Vorbild des Opfers Christi. Diese Darstellung gehört seit den ersten christlichen Jahrhunderten zu den am häufigsten wiederkehrenden und entspricht auch hier der gewöhnlichen mittelalterlichen Darstellungsweise, von der unser Künstler nur etwa in den verbundenen Augen des Isaak sich eine sehr passende Abweichung erlaubt hat. Letzterer erscheint hier in rührender Weise als ein zarter Knabe, zu schwach freilich, um das Holz zum Brandopfer tragen zu können. Die bloße Andeutung der Hecke, in welcher sich der Widder mit den Hörnern verfangen hat, wird durch den engen Raum des Medaillons begründet.

c) Das dritte Bild erinnert uns an 4. Mose, 21; es trägt die Umschrift: „Moses cum aereo serpente“, auf deutsch: „Moses mit der ehernen Schlange". Dieser Vorgang ist von dem Herrn Jesus Christo selbst (Ev. Joh. 3 Vers 14) auf seinen Tod gedeutet worden. Vor Moses steht ein israelitischer Mann in der jüdischen Tracht des Mittelalters mit Spitzhut und kurzem Mantel.

d) Das vierte Bild endlich lässt uns den Propheten Elias und die Witwe von Sarepta (1. Buch der Könige 17 Vers 10 ff.) mit der Umschrift erblicken: „Pauper muliercula Helias Profe“, auf deutsch: „Das arme Weib, der Prophet Elias". Der Prophet Elias kommt in der Zeit der Dürre auf Befehl des Herrn nach Sarepta und findet vor dem Stadttor die ihm von Gott als Versorgerin bezeichnete Witwe mit Holzauflesen beschäftigt. Er verlangt von ihr ein wenig Wasser zu trinken und einen Bissen Brot zu essen; sie aber erwidert: „So wahr der Herr, dein Gott, lebt, ich habe nichts Gebackenes, nur eine Hand voll Mehl im Kasten und ein wenig Öl im Krug, und siehe, ich habe ein Holz oder zwei aufgelesen, und gehe hinein und will mir und meinem Sohne zubereiten, dass wir essen und sterben". Dies ist der Gegenstand der Darstellung: Der Prophet steht bittend vor dem armen Weibe; diese, das gesammelte Holz in einem Bündel auf dem Rücken und die zuletzt aufgelesenen beiden Holzstücke in den Händen, hört seiner Rede zu.

Welche Bedeutung haben nun diese vier Darstellungen? Wir betrachten daraufhin zunächst die ersten drei. Sie reden alle drei von Opfern, die Gott angenehm gewesen sind, und nach deren Vorbilde wir wünschen, dass auch unsere Opfer Gott gefallen mögen. Nach der theologischen Anschauung bildete Melchisedek Christum, den „König der Gerechtigkeit" und „den Priester in Ewigkeit" typisch vor. Wie Melchisedek, so deutet auch Abraham und sein Opfer auf Christum hin. Wie Abraham in seinem großen Gehorsam bereit war, sich selbst gewissermaßen in seinem Sohne darzubringen, so war auch Christus dem Vater gehorsam, indem er sich selbst nach dem Willen des Vaters in den Tod gab. Wie Abraham Patriarch und Haupt aller Gläubigen war, die seinem Glauben und seinen Werken nacheiferten und deshalb Söhne Abrahams genannt werden, so ist auch Christus der Vater aller Christen, in welchem alle wiedergeboren und Kinder Gottes durch Adoption und Gnade werden. Die dritte Gruppe, Moses und die eherne Schlange, bezeichnet, wie schon oben bemerkt, Christus selbst als Vorbild seines Todes. Indem wir bei der vierten Darstellung nur kurz erwähnen wollen, dass man in den beiden von der Witwe aufgelesenen und in Kreuzform gehaltenen Hölzern eine Beziehung auf das heilige Kreuz gefunden hat, eilen wir zu der Hauptbedeutung dieses Bildes. Wenn das Öl und Mehl, das sich wunderbar vermehrt, die von Gott mit gnadenreichem Segen gekrönte, stets heitere und unerschöpfliche Liebe und Barmherzigkeit bedeuten: auf wen anders könnte das mit größerem Rechte bezogen werden, als auf die der Kranken- und Pilgerpflege, der Predigt und dem Gottesdienste geweihten, dienenden, geistlichen und ritterlichen Glieder des Johanniter-Ordens? Waren die sieben anderen Darstellungen passlich und wohlgeeignet für den Abendmahlskelch einer jeden beliebigen Kirche, so bezeichnet diese Darstellung der sareptanischen Frau unseren Kelch entschieden als einen Opferkelch einer Johanniter-Kirche.

Wir haben also in den Darstellungen unseres Kelches ein dreiteiliges wohlgegliedertes Ganzes erkannt, bestehend aus vorbildlichen Figuren, welche von einem ebenso sinnigen als in der theologischen Wissenschaft seiner Zeit tief eingeweihten Künstler mit weisem Bedacht gerade so ausgewählt worden sind, dass sie, gleichsam einem Gesetz innerer Notwendigkeit folgend, in drei Stufen das dreifache Geheimnis der Menschwerdung Christi, der Erlösung und des Messopfers veranschaulichen, in letzterem ihren bedingenden Mittelpunkt finden und zugleich der besonderen Bestimmung für den Gebrauch einer Johanniter-Kirche entsprechen.

Die zugehörige Patene trägt ebenfalls einen Hexameter als Umschrift und dieselbe Inschrift wie die Darstellung des Melchisedek; jener lautet: „Editur hic Jesus et permanet integer esus“, auf deutsch: „Hier wird Jesus genossen und bleibt, obwohl genossen, unversehrt". Gewiss hätte der Dichter auch für die Schale und Patene, ebenso wie für den Fuß des Kelches, Verse aus geistlichen Liedern gewählt, anstatt sich mit den mageren Umschriften zu begnügen. Eine schöne und schwungvolle, auf das Messopfer insbesondere gerichtete Dichtung beginnt sich jedoch eigentlich erst nach der Mitte des 13. Jahrhunderts, namentlich durch Thomas von Aquino († 1274), zu erheben und zu verbreiten. So spricht also auch dieser Umstand dafür, dass Kelch und Patene gegen die Mitte des 13. Jahrhunderts gefertigt seien. Jedenfalls bilden Kelch und Patene eine bedeutende Sehenswürdigkeit der Kirche; es kann daher nicht genug von Glück gesagt werden, dass beide der Kirche bis jetzt erhalten geblieben sind.